Manfred Wekwerth

 

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"Leben des Galilei" 1955 am Berliner Ensemble: Probe mit Martin Flörchinger, Bertolt Brecht und Ernst Busch
"Leben des Galilei" 1955 am Berliner Ensemble:
Probe mit Martin Flörchinger, Bertolt Brecht
und Ernst Busch (v.l.n.r.)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Anthony Hopkins am National Theatre als Coriolan
1971 "Coriolanus" in der Regie von Tenschert/Wekwerth am National Theatre London:
Szene mit Anthony Hopkins (Mitte)

 

 

 

Shakespeare's "König Richard III." in der Inszenierung von Manfred Wekwerth am "neuen theater halle"
"neues theater halle" 1997:
"König Richard III."
in der Inszenierung von Manfred Wekwerth

 

Richard III. in Halle 1997
"neues theater halle" 1997:
"König Richard III."

 


"neues theater halle" 1997:
"König Richard III."
in der Inszenierung von Manfred Wekwerth

 

 

 

1987 am BERLINER ENSEMBLE: "Fatzer" in der Regie von Tenschert/Wekwerth

"FATZER" 1987 am BERLINER ENSEMBLE in der Regie von Wekwerth/Tenschert mit
Arno Wyzniewski, Hans-Peter Reinicke,
Martin Seifert, Ekkehard Schall (v.l.n.r.)
©Vera Tenschert

 

2005 in Dortmund beim UZ-Pressefest
2005: Renate Richter und Manfred Wekwerth in
Dortmund beim UZ-Pressefest (Foto: M. Idler)

 


Brecht-Programm 2006 in Istanbul:
Renate Richter und Zeliha Berksoy

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"Herr Puntila und sein Knecht Matti"
"Herr Puntila und sein Knecht Matti" 1995 am "neuen theater halle" mit Hilmar Eichhorn

 

"Herr Puntila und sein Knecht Matti" 1995 am "neuen theater halle"

"Herr Puntila und sein Knecht Matti" 1995 am "neuen theater halle" mit Hilmar Eichhorn,
Falk Rockstroh

 


Hilmar Eichhorn als Puntila

 


"Herr Puntila und sein Knecht Matti"
1995 am "neuen theater halle"

 

 

 

 


2001 "Jedermann" im Dom zu Halle

 


2001 "Jedermann" im Dom zu Halle

 

 

 


2003 in Halle: "Doktor Faustus"
(The Tragicall History of Doctor Faustus)
von Christopher Marlowe

 


2003 in Halle: "Doktor Faustus"
von Christopher Marlowe in Übersetzung und Bearbeitung von Wekwerth

 


2003 in Halle: "Doktor Faustus"
mit Hilmar Eichhorn

 


2003 in Halle:
"The Tragicall History of Doctor Faustus"
Andreas Range als Mephistopheles

 

 

 

 

Helene Weigel und Ernst Busch in "Mutter Courage und ihre Kinder"
Helene Weigel und Ernst Busch im Film
"Mutter Courage und ihre Kinder"
(Regie: Wekwerth/Palitzsch)
nach der Inszenierung am Berliner Ensemble

 

 

Zerstörung von Kultur
und
Kultur der Zerstörung

Überlegungen, Beobachtungen, Fragen

von Manfred Wekwerth


Beitrag zum 2. Kulturforum der DKP in Nürnberg
am 6. und 7. Mai 2006


Liebe Genossinnen, liebe Genossen,
wenn man über etwas redet, sollte man eigentlich genau sagen, was das ist, worüber man redet und was man selbst darunter versteht. Wenn ich das erst zum Schluß tue, verrät allein das schon, daß ich vom Theater komme und nicht von der Wissenschaft. In der Wissenschaft will man schnell auf den Punkt kommen; im Theater will man auf die Lösung lieber etwas länger warten und das möglichst mit Spannung. Ob mir das allerdings gelingt, weiß ich nicht. Das weiß man auch auf dem Theater nie. Jedenfalls bitte ich um Nachsicht, wenn es wie auf dem Theater dann und wann eine Abschweifung gibt und, wie ich hoffe, auch ein wenig Humor. Schließlich handelt es sich um etwas sehr Lebendiges wie die Kultur.


1

Revolutionäre - und ich zähle Marxisten auch in nicht-revolutionären Zeiten zu ihnen - wissen eigentlich recht gut, was Kultur ist. Nicht nur weil sie im Laufe ihrer Geschichte große kulturelle Leistungen - denkt man allein an Literatur, Filme, Musik - hervorgebracht haben, sondern vor allem weil der Marxismus selbst ein bemerkenswerter Teil der menschlichen Kultur ist. Denn er ist, wie ich meine, der bisher größte Versuch der Menschen, sich eine menschliche Lebensweise zu schaffen. Dazu ist es nötig, die "verordnete Unordnung und planmäßige Willkür", womit das Kapital seit langem seine Herrschaft ausübt und erweitert, durch eine, wie Brecht in seinem "ME-TI-Buch der Wendungen" sagt, "Große Ordnung" zu ersetzen. "Aber", so ergänzt Brecht, "hütet euch vor Leuten, die euch predigen, ihr seid dazu da, die Große Ordnung zu verwirklichen, die als Theorie fertig vorliege und nur verwirklicht werden müsse. Das sind Pfaffen. Sie lesen wieder einmal irgend etwas in den Sternen, was ihr machen sollt. Bisher wart ihr für die große Unordnung da, nun sollte ihr für die Große Ordnung da sein. In Wirklichkeit handelt es sich für euch doch darum, endlich eure Angelegenheiten in die eigene Hand zu nehmen und zu ordnen; dies machend schafft ihr die Große Ordnung." Und mit Marx könnte man fortfahren: "Denn der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus den Voraussetzungen jetzt und hier."

Die Pariser Communarden warteten 1871 zum Beispiel nicht erst auf bessere Zeiten, um den Menschen eine bessere Lebensweise zu schaffen. In den ersten Tagen ihre nur 72 Tage dauernden Volksherrschaft, noch während der Kämpfe mit den Versaillern und den Preußen, und im ständigen Kampf gegen den Hunger, erließ der Rat der Commune seine ersten Dekrete: über "Die Achtung der Menschenwürde", über den "Erlaß der Wechselschulden für die Bevölkerung", über die "Begrenzung der Regierungsgehälter auf den Lohn der Arbeiter", über die "Abschaffung der Nachtarbeit in den Bäckereien", über "Stundung der Mieten", über die "Reorganisation der medizinischen Hochschulen", über die "Wiedereröffnung der Theater", über die "Bildung einer Kommission für Frauenrechte".

1945, noch bevor die Kämpfe gegen die Faschisten zu Ende waren, verteilte die Rote Armee nicht nur Brot an die hungernde Bevölkerung, sondern gleichzeitig auch Werke der Literatur (so lernte ich zum Beispiel Tschechow, Gorki, Scholochow, Gladkow kennen, von deren Existenz ich überhaupt erst auf diese Weise erfuhr), sie veranstaltete mitten in den Trümmern Konzerte mit Werken von Tschaikowski und Schostakowitsch; und einer der ersten Befehle des Marschall Shukow betraf die Wiedereröffnung der Theater. Die das heute als kommunistische Propaganda verleugnen, verschweigen, daß es "Nathan der Weise" war, mit dem in Berlin das Deutsche Theater eröffnet wurde, und daß die Rote Armee, um die Aufführung zu ermöglichen, das Material für die Kulissen zur Verfügung stellte.

1949, im schwierigen ersten Jahr ihrer Existenz, als Beseitigung der Kriegschäden und Wiederaufbau alle Kräfte und Mittel in Anspruch nahmen, eröffnete die DDR eine "Arbeiter- und Bauern-Fakultät", an der jene studierten konnten, die sich bis dahin aus sozialen Gründen vom Studium ausgeschlossen waren.

1959, während die Kämpfe gegen das reaktionäre Batista-Regime noch in vollem Gange waren, begann die kubanische Revolution mit einer Alphabetisierung vor allem der ländlichen Bevölkerung, wie es sie bis dahin in der Geschichte Lateinamerikas noch nicht gegeben hat. Später, im ständigen Würgegriff des USA-Imperialismus, entwickelte sich in Kuba ein nicht nur für Lateinamerika einmaliges Gesundheitswesen. Trotz der durch das US-Embargo schwierigsten wirtschaftlichen Situation erfolgte die Eröffnung der Havanna- Universität, die Ärzte auch für viele lateinamerikanische Länder ausbildet und deren Germanistik inzwischen Weltrang hat.

Und Revolutionäre waren es, die - in den sozialistischen Ländern zur Macht gekommen - sofort eine der bedeutsamsten Forderungen der menschlichen Kultur als Verfassungsartikel verwirklichten: das Recht auf Arbeit.

Das sind nur einige Beispiele. Und man wird sich fragen, warum ich hier aufzähle, was eigentlich bekannt ist, auch weil es von bürgerlichen Männern und Medien so hartnäckig geleugnet wird?

Für mich gibt es da eine Merkwürdigkeit. Ich will es einmal so formulieren: Warum haben die, die - wie der Alterspräsident des Rates der Pariser Commune auf der letzten Sitzung im Mai 1871 sagte - "In wenigen Tagen mehr für die Würde der Menschen geleistet (haben) als andere Regierungen nicht in Jahrhunderten" -, warum haben also Revolutionäre, die in die Geschichte der Arbeiterbewegung für die Kultur der Menschen an Wissen, Erfahrung, Kunst, an Denk- und Lebensweise so viel eingebracht haben, oft Schwierigkeiten, wenn es um den "Kulturbegriff" im Alltag geht? Wenn in der politischen Arbeit zum Beispiel aus Kultur nur noch "kulturelle Umrahmung" wird? Wenn man schon allein deshalb "kulturvoll" ist, wenn man mit Gesangseinlagen politische Versammlungen "attraktiver" machen will? Oder wenn ein Streichquartett zu Ehren irgend eines verdienten Jubilars ausreicht, um von "Kulturbetreuung" zu sprechen? Oder wenn, wie ich es gerade in Berlin erlebt habe, die Veranstaltung zum 120. Geburtstag von Ernst Thälmann geteilt wird in einen "Kulturteil", den ich mit einigen Schauspielern und Musikern bestritt, und den "Inhaltlichen Teil", womit die Reden der Politiker gemeint sind?
Ihr versteht, meine Frage ist nicht, ob es richtig ist, die Kultur für die Politik heranzuziehen. Im Gegenteil. Versammlungen werden durch künstlerische Beiträge ja auch politischer, da sie wirksamer werden. Und man erreicht auf diese Weise vielleicht auch Menschen, die sich für Politik sonst nicht interessieren. In der Agitprop-Bewegung der 20/30-ziger Jahre, in der Kultur direkt politischer Kampf war, finden sich große Namen wie Ernst Busch, Hanns Eisler, Erich Weinert, John Heartfield, George Grosz. Und Brecht berief kurz vor seinem Tode eine Konferenz ein, um die Agitprop-Bewegung wieder zum Leben zu erwecken, weil - wie er sagte - über Agitprop auch in der DDR nicht die besten Nasen gerümpft würden.
Meine Frage ist eine andere: Warum macht linke Politik in der täglichen Arbeit aus Kultur so oft "kulturelle Umrahmung"? Warum betrachten Marxisten die Kultur, immerhin wesentlicher Teil menschlicher Lebenstätigkeit, in der politischen Praxis als Hilfsmittel, politische Ziele durchzusetzen, und nicht selbst als politisches Ziel?
Und daß sich schon Franz Mehring, Repräsentant proletarischer Kultur, diese Frage stellte, beweist, daß das Reduzieren von Kultur auf die "kulturelle Umrahmung" in der Arbeiterbewegung nicht ganz neu ist.

Hanns Eisler, nicht nur ein großer Musiker, auch ein Philosoph von Rang und Humor, sagte einmal, daß man auf diese Weise von Karl Marx wieder auf den Heiligen Augustinus zurückgreift. Der Heilige Augustinus gab nämlich auf die Frage, wozu die Musik da sei, die Antwort "Damit sich die Gemeinde die Psalmen besser merkt."

Aber vielleicht ist es gerade das Bewußtsein, "daß", wie Franz Mehring ebenfalls sagt, "der Kampf des Proletariats die kulturvollste Sache der Menschheit ist", vielleicht ist es gerade diese historische Sicherheit, die uns im politischen Alltag hindert, in jeder neuen Situation über Kultur auch immer wieder erneut nachzudenken. Lenin sprach 1921 auf einem kommunistischen Jugend-Kongreß davon, daß eine Weiterführung der Revolution davon abhänge, ob es gelingt, das kulturelle Niveau der Massen, das niedrig sei, zu heben. Lenins Bemerkung, Sozialismus herrsche da, wo auch die Köchin den Staat regiert, zitiert man gern. Aber das Zitat geht weiter: "Und genau das muß sie lernen."
Und Che Guevara, befragt wie der Bestand einer Revolution am besten zu sichern sei, antwortete: "In erster Linie mit viel Bildung. José Marti sagte, nur ein gebildetes Volk kann ein wirklich freies Volk sein. Es muß wissen, was es will und wie es seine Ziele erreichen kann, dann kann es nicht mehr manipuliert und getäuscht werden." (zitiert nach der Tochter Aleida Guevara).

Ich möchte also den Versuch unternehmen, noch einmal über den - oder sollte ich besser sagen - unseren Kulturbegriff nachzudenken. Dabei erinnere ich mich an ein erstes Gespräch, das ich als Neuankömmling im Berliner Ensemble mit Brecht hatte. Ich erzählte ihm begeistert von der großen Wirkung, die besonders eine Zeile aus seinem Gedicht LOB DER DIALEKTIK auf mich gemacht hat: "Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein?" Seine Antwort damals verblüffte mich einigermaßen: " Ja, ja, Brechts Slogans sind eben die besten".
Gehen wir also davon aus, daß das stimmt. Kürzlich fand ich im Archiv von Brecht einen Brief. Er stammt aus dem Jahr 1952 und war an die Regierung der DDR gerichtet, Er enthält sieben Vorschläge zur Verbesserung der Lehrpläne an den Grundschulen der DDR.
Brecht machte - was heute wenige wissen oder wissen wollen - viele solcher Vorschläge. Es war seine Art, an der "Gesellschaftsumwälzung", denn als solche betrachtete er die DDR, über seine literarische Arbeit hinaus praktisch mitzuwirken. Denn "Denken" hieß für ihn immer eingreifen, oder wie er es gern nannte, "eingreifendes Denken". Und seine "Eingriffe" betrafen eigentlich alles: Die Verbesserung der Ausbildung an den Schauspielschulen ebenso wie Verbesserung der Arbeit der Volkskammer durch mehr öffentliche Einsicht; die ausreichende Bezahlung der Dichter, vor allem Lyriker, damit sie von ihren Arbeiten leben konnten, ebenso wie die Einrichtung von mitbestimmenden Arbeiterräten in den volkseigenen Betrieben; es gab von ihm konkrete Vorschläge für eine Reform der Rechtschreibung, und es gab Ermunterung von Arbeitskollektiven, falls ihre Meinungen nicht angehört würden, wenn nötig auch zum Mittel des Streiks zu greifen; es gab von ihm eine Märchenauswahl als Lesevorschläge für Kindergärten, und Vorschläge an das Außenministerium, bei politischen Zweck-Bündnissen gesellschaftliche Unterschiede der Partner nicht zu unterschlagen; und es gab den Vorschlag für eine neue Nationalhymne (der leider bis heute von niemandem angenommen wurde); es gab Vorschläge, die vom Ministerium eingesetzten Theaterintendanten erst nach einer Qualitätsprüfung durch die Akademie der Künste zuzulassen, und es gab ständigen Proteste gegen Einheitsmeinung und Einheitssprache der Tageszeitungen. Neben der Forderung nach Abschaltung der musikalischen Dauerbeschallung am Ostseestrand wegen Belästigung der Erholungssuchenden, gab es das Angebot an den volkseigenen Betrieb Siemens-Plania, zusammen mit Hanns Eisler die kulturelle Patenschaft zu übernehmen. Mit seinen Thesen zu Barlach anläßlich einer Barlach-Ausstellung, die als "spätbürgerliche Dekadenz" kritisiert wurde, brachte er eine falsche Kulturpolitik der Parteiführung zu Fall, und er bot derselben Parteiführung an, die Losungen zum IV. Parteitag wegen des schlechten Deutschs neu zu formulieren. Und es gab, wie gesagt, die Vorschläge für die Verbesserung der Lehrpläne an den Grundschulen der DDR. In dem Brief an das Volksbildungsministerium lese ich unter Punkt 8:

Eventuell schon ab 5. Klasse sollte das Lehrfach "Kitsch" eingeführt werden.
Im jetzigen Lehrplan fehlen die abschreckenden Beispiele. Weder politische noch geschmackliche Urteile können gebildet werden nur an Gutem. Die Größe der Prosa Tolstois erkennt man besser, wenn man sie der Ganghoferschen gegenüberstellt. Überhaupt dient es der Vertiefung der Erkenntnis und der Geschmacksbildung, wenn dem guten Beispiel immer das schlechte vorausgegangen ist. Denn nur so wird die Qualität des Guten erst wirklich meßbar. Aufstiege werden dadurch anstrebenswerter, wenn man die möglichen Abstiege kennt. Berlin, den 31. 1. 1952. Bertolt Brecht

Nicht nur, weil sich im August der Todestag von Brecht zum 50. Mal jährt, sondern weil ich Brechts Vorschlag für Grundschulen als eine außerordentlich praktikable dialektische Methode auch für das Erwachsenenalter halte, will ich, was den Kulturbegriff betrifft, auch in diesem Fall nach Brecht verfahren.
Bevor ich also weiter über Kultur rede, möchte ich von Unkultur reden. Die höchste Form der Unkultur aber scheint mir heute die ZERSTÖRUNG VON KULTUR zu sein und zwar die Zerstörung durch die Logik und die Interessen des Kapitals.


2

Sicherlich fordert es die Kritik linker Philosophen geradezu heraus, wenn ich nun bei der Darstellung der Zerstörung von Kultur "narrativ" vorgehen möchte, denn das bedeutet unter linken Philosophen mindesten so viel, wie die 8. Todsünde zu begehen. Aber ich will nicht besonders "postmodern" sein, sondern ich sage mir, über die Zerstörung von Kultur infolge der kapitalistischen Produktionsweise, die durch totale Vermarktung immer mehr Entfremdung, Verdinglichung und Verrätselung der menschlichen Beziehungen hervorruft, und auch über Massenmedien, die Kultur zerstören, indem sie Kultur zum Kult machen, gibt es in letzter Zeit von Seiten der linken Philosophie wirklich gute und manchmal auch lesbare Veröffentlichungen. Darum möchte ich das Thema "narrativ" behandeln, kurz, ich will zwei Geschichten erzählen.

Die erste handelt vom Massenmedium Fernsehen und dem Versuch, ein Stück DDR-Geschichte noch vor der Sendung ungeschehen zu machen, damit verhindert wird, daß der Zuschauer heutige Zustände mit den damaligen vergleicht und die damalige Zustände vielleicht falsch, das heißt positiv beurteilt. Es ist dies ein klassischer Fall von "institutioneller Kulturzertrümmerung".

Die zweite Geschichte handelt von einem deutschen Professor, der eine umwerfende kulturelle Entdeckung macht, mit der er den Markt, in diesem Fall den Markt der Brecht-Verwurstung, zurückerobern will, und feststellen muß, daß seine neue Entdeckung ein alter Hut ist und er es selbst war, der das vor einigen Jahren bewiesen hat. Hier liegt ein Fall von "tuistischer Kulturzerstörung" vor, benannt nach Brechts Begriff des "TUISMUS", einer besonders bei deutschen Professoren zu beobachtenden intellektuellen Rückentwicklung. Insofern ist die zweite Geschichte nicht ohne Humor.

Die erste Geschichte

Das Berliner Ensemble hatte bis 1989 einen ständigen Kontakt zu "Buna". "Buna" das ist die Kurzbezeichnung für "Petrolchemisches Kombinat Buna-Merseburg", ein Betrieb in der unmittelbaren Nähe der Stadt Halle, der Plaste für das In- und Ausland herstellte. Vier bis fünfmal im Jahr kamen etwa 700 Betriebsangehörige, darunter vor allem Arbeiter, in die Vorstellungen des Berliner Ensemble. Der Betrieb mietete zu diesem Zweck bei der Bahn einen ganzen Zug, der die Leute früh nach Berlin brachte, wo sie tagsüber Zeit hatten, sich Berlin anzusehen, abends kamen sie dann in unsere Vorstellungen und fuhren nachts zurück. Die Kosten trug, bis auf einen symbolischen Betrag von 5 Mark pro Theaterkarte, der Betrieb, der eigens dafür mit gewerkschaftlicher Unterstützung einen Theater-Kulturfonds einrichtete.
Mitarbeiter des Berliner Ensemble, so sahen es die Verträge vor, kamen dann nach Buna, um mit den Besuchern möglichst direkt am Arbeitsplatz über die Aufführungen zu reden. Daraus entwickelte sich mit der Zeit eine regelrechte Abenduniversität. Regelmäßig fuhren nun Mitarbeiter des Theaters auch außerhalb der Theaterbesuche nach Buna und sprachen nicht nur über bestimmte Aufführungen, sondern über Ästhetik, Dramaturgie, Schauspielkunst, über Musik, über Philosophie, über Politik, über Bildende Kunst und über alltägliche Probleme der Buna-Leute. "Dozenten" sozusagen waren Schauspieler, Dramaturgen, Bühnenbildner, Musiker des Berliner Ensemble. Darunter Helene Weigel, Ekkehard Schall, Ernst Busch, der Chefbühnenbildner Karl von Appen. Unsere Regisseure betreuten das Laientheater, das mit Hilfe des Berliner Ensemble gegründet wurde, der Chefdramaturg Jochen Tenschert unterrichtete im "Zirkel Schreibender Arbeiter" und der Komponist Paul Dessau kümmerte sich um das Orchester, bestehend aus Laienmusikern, und komponierte sogar gemeinsam mit ihnen eigene Stücke. Unser berühmter Theaterplastiker Eddi Fischer, der Opernhäuser in der ganzen Welt mit Drachen für "Siegfried" und mit "Steinernen Gästen" für "Don Giovanni" versorgte, half im Zirkel für Bildende Kunst beim Modellieren. Weil das Interesse an diesen Kultur-Veranstaltungen ständig zunahm, wurde die Arbeit in den Zirkeln so eingerichtet, daß auch Schichtarbeiter daran teilnehmen konnten. Buna und das Berliner Ensemble gaben eine gemeinsame Zeitung heraus, die auch in anderen Betrieben gelesen wurde.

Heute lese ich auch bei linken Theoretikern, daß so etwas wie in Buna eigentlich nicht möglich ist, da erst das Ende der "Erwerbsarbeitsgesellschaft" solche Möglichkeiten schaffe. Erst wenn die "Erwerbsarbeit" aufhöre, gebe es genügend Freizeit für eine individuelle Beschäftigung mit Kultur. Erst die "kulturalistische Wende", wie es fachlich heißt, ersetzt Arbeit durch Kultur, und ermöglicht so den Sprung vom "Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit". Die menschliche Entwicklung wird von da an nicht mehr durch die Arbeit an irgend einem fordistischen Fließband bestimmt, sondern in der Freizeit durch selbstbestimmte Beschäftigung mit schönen Dingen wie Bildung, Reisen. Musizieren, Malen, Schreiben usw. Der "Bürger ohne Arbeit" (so lautet der Titel eines neuen Buches) kann endlich, wie Marx es ja schon immer wollte, durch "Vermehren der freien Zeit, d. h. der Zeit für die volle Entwicklung des Individuums" zu sich selbst finden und so Entfremdung, Verdinglichung, Fremdbestimmung usw. aus eigener Kraft aufheben. Einige sprechen sogar davon, daß die hohe Zahl der Arbeitslosen im Osten, deren Rate schon mancherorts die 30-%-Marke übersteigt, gar keine Katastrophe sei, sondern Vorbote der Zukunft. Statt davor zu erschrecken, sollte man begreifen, daß die Arbeitslosen im Osten die "Avantgarde" sind, die dem Westen die künftige Gesellschaftsform nach dem Ende der "Arbeitsgesellschaft" bereits vorleben.

Nach meinen Erfahrungen in Buna habe ich da so meine Zweifel, ob wirklich die Arbeit aufhören muß, damit die Freizeit anfangen kann. Wie ich überhaupt meine Zweifel habe, wenn von Arbeit nur noch als von "Erwerbsarbeit" gesprochen wird und überhaupt nicht mehr von "produktiver Lebenstätigkeit", die ja, wenn ich Marx richtig verstanden habe, mehr umfaßt als das Abrackern am Fließband. Sicher, die Arbeit in einem Chemiebetrieb wie Buna wurde nicht leichter, wenn daneben noch Kulturarbeit stattfand. Aber da es am gleichen Ort, eben am Ort der Produktion, geschah, wo beides "Notwendigkeit und Freiheit", also Arbeit und "Spiel" sich miteinander verbanden, erlebten die Produzenten Arbeit und Kultur eben nicht als sich ausschließende Gegensätze, sondern als zwei Möglichkeiten einer Sache: eben der produktiven Lebenstätigkeit, für Marx zugleich Produkt als auch Quelle des menschlichen Wesens. Ja, man bekam eine Ahnung davon, wie vielleicht einmal Lebensgenuß nicht als das Gegenteil von Arbeit empfunden wird. sondern gerade in der Gesamtheit bewußter Tätigkeit des Menschen entsteht. Wir konnten in Buna beobachten, wie selbst die für den einzelnen manchmal drückenden Probleme in der Produktion ihre bedrückende Schicksalhaftigkeit verloren, wenn sie von der Theatergruppe spielend oder im Literaturzirkel schreibend dargestellt, und damit öffentlich gemacht wurden. Das Schicksal wurde hier sozusagen sozialisiert. Es schien sich bei den Begegnungen in Buna zu bewahrheiten, was Brecht in seinem Stück "Die Tage der Commune" den Maurer "Papa" sagen läßt: "Denn wozu leistet man etwas? Dafür, daß man sich etwas leistet."

Soweit die Vorgeschichte. Denn Buna existiert nicht mehr. Es wurde wie vieles "abgewickelt", das heißt planmäßig zerstört. Das berühmte Kulturhaus steht zwar noch, ist aber baufällig und soll demnächst unter Wert an einen Investor verkauft werden, der daraus eine Diskothek machen will. Auch die fünftausend Beschäftigten gibt es noch, sie sind heute tatsächlich "Bürger ohne Arbeit", jedenfalls die älteren. Die jüngeren sind zum großen Teil, wie es heute schon wieder heißt, "nach dem Westen abgewandert", da sie Arbeit dort suchen, wo sie eventuell noch Arbeit finden. Für die Stadt Halle zum Beispiel bedeutet das einen Verlust von etwa 100 000 Einwohnern und die Sorge, daß Halle eine Stadt der Rentner wird. Buna selbst ist heute ein bedeutungsloser Ort, perspektivlos, zukunftslos, hoffnungslos.
Und hier setzt nun ein, was ich die "institutionelle Kulturzertrümmerung" nenne. Mit Hilfe administrativer Maßnahmen wird versucht, diese Gegenwart dadurch etwas heller zu machen, indem die Vergangenheit verdunkelt wird. Das ist keine neue Methode, man trifft sie in der Geschichte immer dann an, wenn der Sieger versucht, den Besiegten zu verteufeln, um eigene Teufeleien vergessen zu machen.
Eine Münchner Filmgruppe, die Stoffe für Dokumentarfilme suchte, entdeckte bei einer Reise in den Osten zufällig das Kulturhaus in Buna und erfuhr von den dort noch lebenden ehemaligen Angehörigen des Werkes, was dort einmal an Kultur stattfand. Das Film-Team begann sofort bei Zeitzeugen, die noch erreichbar waren, möglichst viele Fakten zu recherchieren. Das für sie überraschende Ergebnis veranlaßte sie, daraus ein Drehbuch für einen abendfüllenden Dokumentarfilm zu machen. Und da das Mitteldeutsche Fernsehen Interesse an "lokal bemerkenswerten Ereignissen der Vergangenheit" signalisiert hatte, boten sie dem MDR den Stoff an und begannen, aus eigener Tasche mit den Dreharbeiten. Sie machten Interviews mit ehemaligen Betriebsangehörigen und auch mit Leuten des ehemaligen Berliner Ensemble. Sie beschafften alte Dokumente wie Fotos, Filme, Erlebnisberichte in Tagebüchern der Arbeitskollektive. So entstand ein authentisches Film-Material von fast 10 Stunden als Grundlage für den Dokumentarfilm. Auch der Titel war gefunden "An der Saale hellem Strande", das ist der Anfang eines alten Volksliedes aus der Gegend um Halle. Die Enttäuschung und damit die Verluste des Filmteams waren groß, als sie vom MDR einen Brief erhielten.


Leipzig, den 20 .04. 2004

" Natürlich war das Kultushaus Buna ein interessantes Experiment und es hat dort ja auch zeitweise gute Kunst stattgefunden, bis es in den späteren Jahren immer mehr - wie alles andere auch - verflachte. Dennoch fehlt mir in dem vorliegenden Exposé die Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff der DDR/Sowjetunion und mit dessen propagandistisch manipuliertem Zweck, und eine Erklärung des Phänomens "Kulturhaus". Ein eigenwilliger, analytischer und ausreichend geschichtsbewußter Zugang an das Thema ist nicht zu erkennen. Im Vergleich zu anderen Dokumentarfilmen, die aus unserem Programmbereich kommen, ist der vorliegende Projektvorschlag unzureichend kritisch bis nostalgisch.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Claudia soundso
Fernsehdirektion

Am 31. Oktober 2004, also fast zur gleichen Zeit, strahlte der MDR in seinem Kulturmagazin ARTOUR einen Beitrag aus, in dem es auch um ein Kulturhaus ging. Denn der "Kulturpalast" des einstigen Elektrochemischen Kombinats Bitterfeld war an diesem Tag vor 50. Jahren eröffnet worden, was von dem Moderator in folgender Weise kommentiert wurde:

Ulbricht habe den Arbeitern des Elektrochemischen Kombinats Bitterfeld, um sie ruhig zu halten und von den wirklichen Schwierigkeiten abzulenken, einen Kulturpalast hingebaut. Aber dann, stellte der Moderator empört fest, mußten sich die Arbeiter um die Kultur selber kümmern. Nach ihrer schweren Arbeit mußten sie noch in dem Kulturpalast dichten, malen, tanzen, ja, auch die Musik selber machen. Davon, so schloß der Moderator seinen Beitrag, sei Gott sei Dank nur der Kulturpalast übrig geblieben.
Dieser Beitrag des Mitteldeutschen Rundfunks enthielt offenbar jenen "eigenwilligen, analytischen und ausreichend geschichtsbewußten Zugang", den die Fernsehdirektion im Drehbuch des Münchner Filmteams über das Kulturhaus in Buna vermißte, weshalb der Film auch bis heute nicht gedreht werden konnte.

Die zweite Geschichte

Das Jahr 2006 ist ein gutes Jahr für die Literaturwissenschaft, denn vor 50. Jahren starb Brecht. Und also es ist wieder günstig, über Brecht etwas auf den Markt zu bringen. Und natürlich rät der Markt, über Brecht nur das zu schreiben, was vorher noch niemand geschrieben hat. Und da das viele machen, ist am Ende das Viele immer nur dasselbe: Es ist, auf den Punkt gebracht, der seit dem vorigen Jahrhundert in Medien und Presse beliebte und gut honorierte Versuch, Brecht, wie er es selbst nannte, "die Reißzähne zu ziehen". Kurz: Ihn der herrschenden Meinung anzupassen, die ja, wie ein ebenfalls nicht ganz passender Bärtiger aus Trier einmal treffend sagte, immer die Meinung der Herrschenden ist.
In diesem Sinn erreicht uns aus Karlsruhe ein Evangelium, was ja zu deutsch Frohe Botschaft heißt. In dieser Frohen Botschaft wird verkündet, daß ein "ganz neuer Brecht" entdeckt ist. Einem deutschen Professor namens Jan Knopf, dem zu diesem Zweck der Staat ein ganzes Institut einrichtete, ist es gelungen, Bertolt Brecht (den er im Internet programmatisch den GOETHE DES 21. JAHRHUNDERTS nennt) von dem Verdacht zu reinigen, er sei Marxist gewesen. Er, der Professor, habe nämlich in Brechts nachgelassener Bibliothek im Berliner Brecht-Haus nachgeschaut und kann nun beweisen, daß es nur seine ehemaligen Schüler und linke Biografen waren, die behaupteten, Brecht habe Marx gelesen. "Davon", so verkündet der Professor, "kann jedoch keine Rede sein, Brecht hat Marx nie richtig gelesen. Die Lektüre des KAPITAL ist lediglich als sporadische Urlaubslektüre überliefert." Denn der Professor habe bei dem - wie er sagt - "Büchernarren Brecht" nur eine weitgehend ungebraucht wirkende KAPITAL-Ausgabe von 1932 gefunden, obwohl Brechts angebliche Marx-Studien doch um Jahre zuvor datiert seien. Daß sich Brechts selbst als Marxismus-Kenner darstellt, ist für den Professor eine - wie er sagt - " typisch Brechtsche Selbstinszenierung, die im konkreten Fall einem speziellen Auftritt zur Preisverleihung in Moskau geschuldet war".

Seine Konklusion: "Wir wollen mit unserer Arbeit eine Hilfestellung leisten, den ‚neuen Brecht' zu entdecken, der bisher als kommunistischer Dichter diskreditiert wurde." Soweit der Professor aus Karlsruhe.

Hier liegt, wie gesagt, der klassische Fall von TUISMUS vor. Die TUIs (Brechts Umdrehung des Begriffes "Intellektuell" in "Tellekt-Uell-In") sind Leute, die ihren Verstand vermieten, um gegen Honorar Sätze zu beweisen wie "Der Regen fließt von unten nach oben.", oder " Milch wird aus Käse gemacht.", oder "Neue Arbeitsplätze schafft man, indem man die Arbeitszeit von denen, die noch arbeiten, verlängert."
In unserem Fall handelt es sich, wie schon gesagt, um einen Fall von typisch "tuistischer Kulturzertrümmerung".
Denn natürlich weiß unser Professor aus Karlsruhe, daß ein Satz wie "Brecht hat Marx nie gelesen." paßt zu einem Satz wie "Der Regen fließt stets von unten nach oben.", aber er paßt nicht zu Brecht. Und genau das hat unser Professor vor einigen Jahren, als es noch schick war, links zu sein, selbst bewiesen, als er in einem Aufsatz " Brecht und der Marxismus" kategorisch schrieb: "Natürlich hat Brecht seine "Große Methode", wie wir sie in seinem 'Meti - Buch der Wendungen' finden, ganz von der marxistischen Dialektik abgeleitet und hier besonders von Lenin." Damals gab der Professor auch noch Bücher heraus wie die GROSSE KOMMENTIERTE FRANFURTER UND BERLINER BRECHT-AUSGABE , und da kennt er natürlich, was er im Band XXI Seite 256 herausgegeben hat. Denn da steht schwarz auf weiß, was Brecht 1928 an Elisabeth Hauptmann schrieb: "Als ich das Kapital von Marx las, verstand ich meine Stücke."

Die "tuistische Kulturzerstörung" ist also nicht ganz so zuverlässig wie die "institutionelle Kulturzerstörung". Aber in Zeiten, wo Vernunft und Aufklärung als die eigentlichen Krankheiten bezeichnet werden, und wo der Irrationalismus Retter in der Not sein soll, die Welt von derartigem "Aufkläricht" zu befreien, in Zeiten wo von Gott selbst ernannte und in den Irak geschickte Erlöser ein ganzes Volk in Grund und Boden demokratisieren, und christliche Leitkultur in deutschen Kindergärten den deutschen Kindersegen wieder heben soll, wo weltweiter Protektionismus "Freihandelszone" und "koloniale Unterwerfung der Welt" "Globalisierung" genannt wird, wo Folter in militärischen Dienstreglements unter dem Punkt "Begünstigung von Aussagebereitschaft" rangiert, und wo Unternehmergeist aus dem einstigen Begriff "Arbeiter" erst den "Arbeitnehmer", dann den "Arbeitskraftunternehmer" und schließlich das "Human-Kapital" macht , in Zeiten, wo selbst Linke nicht mehr von "Klassenkampf", sondern von "Sozialinteressenhandlungsbedarf" sprechen und nicht mehr "Revolution" sagen, sondern "die über den Kapitalismus hinausweisende Alternative", in solchen Zeiten ist Hohe Zeit für den TUISMUS. Der TUI wird unentbehrlich. Denn er vermag, Kultur zu zerstören, indem er behauptet, neue Kultur zu schaffen. Denn der Tuismus schafft jenen "objektiv-realen Nebel", mit dem, wie Ernst Bloch sagt, der Kapitalismus seine konstituierende Absurdität verhüllt, um seine absurde Wirklichkeit als einzig vernünftige und seine Welt als die einzig mögliche darzustellen. Kurz: Die Menschen sollen verstehen, daß mit dem Kapitalismus die Geschichte der menschlichen Gattung zu Ende ist.

Die Zerstörung des Geschichtsbewußtseins aber, die Behauptung, die Menschheit sei auf dem Gipfel ihrer Entwicklung angekommen und der Neoliberalismus sei das letzte Wort Gottes, ist, wie ich meine, die größte Kulturzerstörung, die der Kapitalismus heute unternimmt. Es ist der Versuch, die menschlichste aller Fähigkeiten, die Fähigkeit nämlich, Dinge und Verhältnisse verändern zu können, zu eliminieren. Die Menschen sollen gezwungen werden einzusehen, daß die Existenz des Kapitals eine unabänderliche göttliche Entität ist. Medien und Mode, Werbung und Religion, Okkultismus und Wissenschaft, Kitsch und Kunst sind aufgerufen, in den Köpfen der Menschen Zustände, so wie sie nun mal sind, als ewig gültige darzustellen. Zukunft wie Vergangenheit sollen bedeutungslos werden. Gelänge das, wäre die Alternative Rosa Luxemburgs SOZIALISMUS ODER BARBAREI zu Gunsten der letzteren entschieden.

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Wahrscheinlich hätte ich meine Ausführungen an dieser Stelle beendet, denn der ursprüngliche Titel lautete: DIE ZERSTÖRUND VON KULTUR. In der Zwischenzeit hatte ich mich aber mit Brechts Versifizierung des "Kommunistischen Manifest" beschäftigt, das wir in Form eines Rezitativs mit Piano, Schlagzeug und zwei Schauspielern als unseren Beitrag zum 120. Geburtstage von Ernst Thälmann in Berlin aufführten. Brecht hatte 1945, zurückgekehrt aus der Emigration, den Text von Marx und Engels, den Brecht auch als Kunstwerk betrachtete, in Verse gebracht, um so zu seiner Verbreitung beizutragen. Einige Verse daraus gaben den direkten Anstoß, noch einmal über den Titel nachzudenken und DIE ZERSTÖRUNG VON KULTUR mit KULTUR DER ZERSTÖRUNG zu ergänzen.

Riesige Krisen, in zyklischer Rückkehr, gleichend enormen
Unsichtbar tappenden Händen, ergreifen erdrosselnd den Handel
Schütteln in schweigender Wut die Betriebe, die Märkte, die Speicher
Hunger von alters her plagte die Welt, wenn die Kornkammern leer warn
Jetzt aber, keiner versteht es, hungern wir, weil sie zu voll sind.
Nichts in den Töpfen finden die Mütter die Mäulchen zu füllen
Doch hinter Mauern, in turmhohen Speichern, fault säck'weis das Korn weg
Irgendwo türmen sich Ballen von Tuch, aber frierend durchzieht die
Lumpenverhüllte Familie, von heute auf morgen geworfen
Aus ihrer Wohnung, die nun leeren Wohnviertel ohne Bewohner.
Ach, der so rastlos gearbeitet, fluchend der Ausbeutung, findet
Heute schon keinen mehr, der ihn noch ausbeutet. Rastlos durchquert er
Suchend nach Arbeit, die Stadt (…)
Immer beruhte der Herrschenden Herrschaft darauf, daß die Unteren
Von ihrem Schuften doch lebten: die Ausbeutung war ihnen sicher.
Aber die Ausbeuter heute sind nicht einmal dazu bereit
Ausbeutung ihren Sklaven zu sichern. Die einst die Maschinen
Bauten, sind nun verdrängt durch Maschinen, die billiger arbeiten
Arbeiterheere vom Bourgeois gebraucht, Gewinne zu machen
Treibt der Gewinn nun, um weiter zu wachsen, aus den Fabriken. Doch
Mit dem Gewinn wachsen Heeren von Arbeitern ohne Arbeit
Mangel entsteht, wo mehr produziert wird. Nicht die Flaute ist es, die
Arbeit vernichtet, es ist der Erfolg. Und es ist nicht der Mangel
Der da die Schuld trägt, der Überfluß ist's. Der Bau der Gesellschaft
Teuer, mit so vieler Mühe errichtet von vielen Geschlechtern
Sinkt in barbarische Vorzeit zurück. Das "Zuviel" macht ihn wanken.

Soweit Marx, Engels und, Brecht.
Von manchem, auch linken, Politiker dagegen höre ich, daß die Arbeitslosigkeit allein Folge der zeitweiligen Flaute des Kapitalismus ist und mit steigendem Wachstum wieder sinkt. Darum dürfe man auch als Linker dieses Wachstum der Wirtschaft im Interesse der Arbeitslosen keinesfalls stören. Natürlich müsse man den Kapitalismus bekämpfen, aber das geschehe heute, indem man die "Profit-Dominanz" eindämmt, denn sie sei der Grund heutiger gesellschaftlicher Unstimmigkeit.
Mir kommt das, vor, als fordere man den Regen ultimativ auf, endlich nicht mehr naß zu sein. Denn wenn ich Marx richtig verstanden habe, ist Arbeitslosigkeit kein zeitweiliger Betriebsunfall des Kapitalismus, den ein Aufschwung wieder beseitigt. Arbeitslosigkeit ist bereits dieser Aufschwung, denn sie bringt Gewinn. Wie wir allabendlich in der BÖRSE IM ERSTEN vom charmanten ARD-Aufschwungs-Guru Herrn Lehmann hören, steigen ja zusammen mit der Arbeitslosenzahl auch erheblich die Börsen-Kurse. Die Industrie spricht ja geradezu von "Entlassungs-Produktivität". Arbeitslosigkeit ist also kein Versagen des Kapitalismus, es ist sein normales Funktionieren. Die wachsende "industrielle Reservearmee" (Marx), die da ohne Arbeit vergeblich auf Arbeit wartet, ist für den Kapitalismus kein beschämendes Unglück, im Gegenteil, es ist das Glück stolzen Unternehmertums, wissenschaftlich beraten von bewährten Instituten wie McKinsey. Arbeitslosigkeit ist Voraussetzung für billige Arbeit. Und sinkt Wert der Ware Arbeitskraft, steigt der wahre Gewinn des Produkts, und als nützliche Nebenerscheinung erhöht sich auch die Bereitschaft der Produzenten, länger zu arbeiten und so noch billiger. Die Reduzierung der Pinkelpause von 8 auf 5 Minuten zeigt zum Beispiel, wie sich die Arbeitsmoral bereits gebessert hat. Und daß wir den niedersten Krankenstand seit Bismarck haben, zeigt, wie das Volk gesundet.

Geht man also davon aus, daß Marx, Engels in den Hexametern Brechts recht haben, ist vielleicht auch die Zerstörung von Kultur gar keine Entgleisung des kulturlosen Kapitalismus, der mal kurz aus seiner geregelten Bahn geworfen wird, es ist vielleicht seine geregelte Bahn? Wie die Arbeitslosigkeit für das Kapital ein Gewinn ist, kann vielleicht die Zerstörung von Kultur ebenfalls ein Gewinn sein? Sie kann zum Beispiel Platz schaffen, für eine ganz andere Kultur. Eine Kultur, von der das Kapital nicht ständig kritisiert wird, sondern die ihm die Treue hält. Ja, die es legitimiert. indem sie in den Köpfen der Menschen alle anderen Möglichkeiten der Gesellschaft tilgt und das Kapital zum ewigen Gott macht. Und vielleicht meinte Lenin diese "Kulturtat" des Kapitals, als er 1921 von den "zwei Kulturen" sprach, die sich im imperialistischen Zeiten gegenüber stehen? Und vielleicht ist die eine davon eben diese KULTUR DER ZERSTÖRUNG.

Für die KULTUR DER ZERSTÖRUNG gibt es für mich in der heutigen Zeit ein beängstigendes Beispiel, das zugleich Stoff für eine Komödie des Moliere sein könnte. Es ist

Die Zauberformel von der Alternativlosigkeit

Gleich, ob die Deutsche Bank, bei einem Jahreszuwachs von 9 Milliarden 6000 Angestellte abbaut, ob Militärs von der Notwendigkeit ihrer Kriege in Jugoslawien, Afghanistan oder neuerdings im Kongo sprechen, ob die Deutsche Bahn, um mehr Hochgeschwindigkeitszüge fahren zu lassen, den Nahverkehr ganzer Gegenden lahmlegt, ob man, weil arbeitslose Jugendliche auch bei ihren Eltern wohnen können, ihnen das sowieso schon unzureichende Arbeitslosengeld kürzt, oder ob Theater das Schwarz der finsteren Zeiten auf der Bühne noch schwärzer machen, um den Leuten Lust und Hoffnung zu nehmen, den finsteren Zeiten zu entkommen, bei all denen findet man stets ein kleines Wörtchen und das heißt: alternativlos.

In seiner fast alltäglichen Harmlosigkeit, als sei es dem Spieltisch entnommen, verbirgt es die Tatsache, daß mit ihm ganze Zeitalter menschlicher Entwicklung rückgängig gemacht werden. Denn es verkündet absoluten Stillstand. Wo einstmals "Schicksal" gesagt wurde, um anzudeuten, daß es davor kein Entrinnen gibt, sagt man jetzt "Sachzwang", und wo einst der Fluch der Atriden das Unglück heraufbeschwor, ist es heute die "Alternativlosigkeit".

Es ist die Zauberformel, mit der das Kapital endgültig die Weltherrschaft antreten möchte und zwar auf Dauer. Verkündend das Ende aller Ideologien, braucht es allerdings dafür eine besonders starke Ideologie. Und die heißt: Alles bleibt, wie es ist, weil es zum Kapitalismus keine Alternative gibt. Und da man Veränderungsmöglichkeiten derart leugnet, zeigt das, wie sehr man sie fürchtet. Zwar wird Sieg über den Sozialismus täglich verkündet, aber man fürchtet offenbar den Sozialismus mehr als je zuvor. Von den Kathedern, den Kanzeln, den Bildschirmen predigt man unablässig die Sinnlosigkeit jeder Veränderung des gesellschaftlichen Systems. Man diskreditiert, vom Sklavenaufstand des Spartakus angefangen, systematisch alles, was Revolutionen hervorgebracht haben und nimmt damit den Menschen Fähigkeit und Mut, Alternativen überhaupt zu denken. Die stereotype Behauptung, diese Welt sei vielleicht nicht die beste, aber die heute einzig mögliche, soll zum allgemeinen Alltagbewußtsein der Bevölkerung werden, denn das bietet mehr als jede Gewalt eine zuverlässige Sicherung der Herrschaft des Kapitals.
Auch selbsternannte Linke haben das "Ende der großen Erzählungen" entdeckt. Sie bedauern, von Gesellschaftsumwälzungen Abstand nehmen zu müssen, da die Welt sich global so kompliziert habe, daß gesellschaftliche Zusammenhänge nicht mehr erkennbar seien. Die Welt sei in ihre Einzelheiten zerfallen, sie seien heute die einzig faßbaren Realitäten. Eine Suche nach Wahrheit gliche unter diesen Bedingungen der Plackerei jenes Sisyphos, der wenigstens noch wußte, was ein Stein ist. Wahrheit sei heute, wie jedes Denken in irgendwelchen Systemen, eine Verirrung, die den freien Schöpferwillen des Individuums nur einschränke. "Kämpfen wir also gegen den weißen Terror der Wahrheit, mit und für die rote Grausamkeit der Singularitäten", fordert in revolutionärer Leidenschaft der postmoderne Jean-Francois Lyotard. Heute sei der ein Revolutionär, der den Mut hat, das laut zu sagen, damit der Gedanke der Alternativlosigkeit die Massen ergreift und sie sich mit der Welt abfinden, weil alles andere das Unglück nur vergrößere. Links sein heiße heute, den Menschen helfen, damit fertig zu werden und "den Gürtel enger zu schnallen, wenn wir uns nicht daran aufhängen wollen", sagt Klaus Happrecht, Vordenker heutiger Sozialdemokratie. Damit sind natürlich auch Klassenkämpfe überholt wie der um die "Expropriation der Expropriateure", also um Enteignung der großen Kapitalien. Das sei roter Schnee von gestern. "Denn es geht", sagt einer der heutigen Fraktionsvorsitzenden der "Linkspartei", "weniger um die Frage, wer Eigentümer ist, sondern wie mit Eigentum umgegangen wird."

Die Meinung, daß die Frage, wem was gehört, also die Frage nach dem Eigentum für die linke Bewegung heute keine Bedeutung mehr habe, kann man natürlich nicht zur KULTUR DER ZERSTÖRUNG zählen, denn sie selbst ist das Resultat davon. Diese Meinung ist bereits zerstörte linke Kultur.

Brecht, 1935 auf dem Schriftsteller-Kongreß "Zur Verteidigung der Kultur" in Paris, konfrontiert mit der Forderung, zur Herstellung der Volksfront gegen Barbarei und Gewalt von humanen Werten auszugehen und nicht von Eigentumsfragen, antwortete:

Warum wird die Kultur über Bord geworfen wie ein Ballast, jene Reste der Kultur, die uns übrig geblieben sind; warum wird das Leben von Millionen von Menschen, der allermeisten Menschen so verarmt, entblößt, halb oder ganz vernichtet?
Kameraden, denken wir nach über die Wurzel der Übel.
Ich selber glaube nicht an die Roheit um der Roheit willen… Die Roheit kommt nicht von der Roheit, sondern von den Geschäften, die ohne sie nicht mehr gemacht werden können
Eine große Lehre nun, die immer größere Menschenmassen auf unserem Planeten, welcher noch jung ist, erreicht, sagt, daß die Wurzel aller Übel die bestehenden Eigentumsverhältnisse sind und die barbarischen Methoden, mit denen sie verteidigt werde.
Kameraden, sprechen wir von den Eigentumsverhältnissen!

Soweit Brecht 1935 in Paris.

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Ich komme zum Schluß und ich versprach, am Schluß zu sagen, was ich unter dem Kulturbegriff - unserem Kulturbegriff - verstehe.
Zunächst habe ich mich bei Leuten umgetan, die noch Latein können und die sagten mir, das Wort "Kultur" komme von "colare" und das heißt "gegenüberstellen". Ich finde das gar nicht so schlecht, denn tatsächlich stellt der Mensch sich ja sich selbst in seinen Werken gegenüber, die durch seine Tätigkeit entstanden sind. Er kann sich als "gegenständliches Wesen" (Marx) in seinen Werken wiederfinden. Aber das ist natürlich noch keine Definition.
Von Brecht habe ich anscheinend den Unmut geerbt, mich auf Definitionen einzulassen. Aber es spricht für Brecht, daß er auch das Gegenteil behauptete: Was sich nicht in einem Satz sagen läßt, sagt zu wenig.
Ich will es also versuchen, allerdings mit zwei Sätzen. Und dabei möchte ich die Hilfe von zwei Philosophen beanspruchen, die mir sehr geholfen haben, den Kulturbegriff handhabbar zu machen.

a
Brecht schickte uns Assistenten, weil er Unwissen bei seinen Mitarbeitern für etwas Unmoralisches hielt, zweimal die Woche in den frühen Morgenstunden noch vor Probenbeginn in die Vorlesungen von Wolfgang Harich. Harich war damals mit seinen 22 Jahren der jüngste und wohl eigenwilligste Philosophie-Dozent der Humboldt-Universität. Bis heute bezeichne ich diese Vorlesungen als "atheistische Pfingstfeste", denn uns gingen wirklich Lichter auf, nicht auf dem Kopf, wie in der Bibel, sondern in ihm.
Harich sprach auch über Kultur und sein Kulturbegriff gefällt mir bis heute, weil er die Enge des "Nur-Geistigen" kühn durchbrach. Am 13. 9. 1951 notierte ich in mein Vorlesungsheft:

Der Mensch, nicht nur biologisch, sondern vor allem historisch bestimmt, verliert durch seine Produktion mehr und mehr die natürliche Anpassungsfähigkeit an die Umwelt und ist als "biologisches Mängelwesen" gezwungen, sich eine eigene Umwelt künstlich zu schaffen, in der die Befriedigung seiner Bedürfnisse zugleich stets neue Bedürfnisse erzeugt. Sich selbst produzierend, indem er produziert, wird der Mensch zu einem kulturellen Wesen, das sich stets neu hervorbringt. Kultur als Humanisierungprozeß des Menschen, seine Alternative ist höher entwickeln oder zugrunde gehen.

b
István Hermann, ein Schüler von Georg Lukàcs, ist, wie ich finde, einer der bedeutendsten marxistischen Kulturtheoretiker der letzten Zeit. Seine Arbeiten PROBLEME DER SOZIALISTISCHEN KULTUR und PROBLEME DER HEUTIGEN KULTUR hatten das Unglück, in einer Zeit zu erscheinen, die man als "Wende" bezeichnet, die genauer aber Beginn der kapitalistischen Restauration heißen sollte. István Hermann starb, bevor ihn auch die linke Philosophie zur Kenntnis nahm. Was sie allerdings gerade in der Phase der Neubesinnung bald tun sollte.

István Hermann über den Kulturbegriff:

Der Mensch reproduziert sich selbst dauernd, und die einzige Frage ist, ob er, während er die Produktion in einer erweiterten Form reproduziert, fähig ist, auch sich selbst in einer erweiterten Form zu reproduzieren. Mit anderen Worten, die Frage, auch bei Marx, besteht darin, ob es dem Subjekt mittels der Freizeit gelingt, sich zu einem anderen Subjekt zu gestalten und auf diese Weise als ein neues entwickeltes Subjekt in die Produktion zurückzukehren. Gelingt ihm das, realisiert sich in der Freizeit die Einheit der gesellschaftlichen Voraussicht und der individuellen Voraussicht, dann wird schon ein grundlegendes Moment des menschlichen Kulturentwicklungsprozesses deutlich. Gerade der Begriff der Voraussicht spielt bei Marx eine wichtige Rolle. Denn Voraussicht heißt ständiges Neuentwerfen des Menschen im Sinne des menschlichen Selbstwerts, der so sein Leben nicht nur sichert, sondern ständig erweitert und das Erweitern spielend genießt.

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Um noch einmal auf die Eingangsfrage nach dem Verhältnis von Politik und Kultur zurückzukommen, scheinen mir Wolfgang Harich und István Hermann auch dabei eine Hilfe zu sein. Wenn ich sie richtig verstehe, kann es in der Frage des Verhältnisses zwischen Politik und Kultur keine Nachordnung der Kultur geben. da es ja, marxistisch gesehen, zum Beispiel auch eine Kultur der Politik gibt, oder sagen wir, geben sollte. Oder eine Kultur des Denkens. Ja, auch eine Kultur des Streites.
Für letztere sehe ich besonderen Bedarf, wenn ich daran denke, wie viel an kollektivem Wissen uns verloren geht, allein weil im Streit der linken Theoretiker, der an Schärfe ständig zunimmt, die Richtigkeit der eigenen Meinung gemessen wird an der Niederlage der anderen. Daß im Streit unter Linken - zumeist nicht einmal persönlich, sondern nur in Veröffentlichungen ausgetragen - das "Wer - wen?" vorherrscht, das Lenin ja einst für den Klassenkampf vorsah und nicht so sehr für linken Meinungsstreit unter uns.
Und auch die Kultur des Denkens sollte von uns immer mal wieder überprüft werden, da sich auch hier Rituale und leere Abstraktionen immer wieder durch die Hintertür einschleichen.
Der oft zitierte Satz von Lenin, daß der Marxismus allmächtig sei, weil er wahr ist, wird trügerisch, wenn man ihn versteht, als sei man selbst stets im Besitz dieser Allmacht, da man ja Marxist ist. Und da der Marxismus recht hat, habe auch der Marxist immer recht. Und da man die "große Wahrheit" besitze, sei auch alles, was man selber tut, "wahr". Für solche Fälle gibt es von Lenin noch eine andere, sehr heilsame Forderung: DIE KONKRETE ANALYSE DER KONKRETEN SITUATION.

Nicht nur, weil sich der Todestag von Brecht bald zum 50. Mal jährt, hier am Ende noch einmal Brecht. Hören wir, was er seinen Galilei über

Die Kultur des Denkens und Streitens sagen läßt:

Meine Absicht ist nicht zu beweisen, daß ich bisher recht gehabt habe, sondern: herauszufinden, ob. Ich sage, laßt alle Hoffnung fahren, ihr, die ihn nun in die Beobachtung der Sonnenflecken eintreten werdet. Vielleicht sind es Dünste, vielleicht sind es Flecken, aber bevor wir Flecken annehmen, welche uns gelegen kämen, wollen wir lieber annehmen, daß es Fischschwänze sind. Ja, wir werden alles, alles noch einmal in Frage stellen… Und was wir heute finden, werden wir morgen von der Tafel streichen und erst wieder anschreiben, wenn wir es noch einmal gefunden haben. Und was wir zu finden wünschen, das werden wir, gefunden, mit besonderem Mißtrauen ansehen. Also werden wir an die Beobachtung der Sonne herangehen mit dem unerbittlichen Entschluß, den Stillstand der Erde nachzuweisen. Und erst wenn wir gescheitert sind, vollständig und hoffnungslos geschlagen und unsere Wunden leckend, in traurigster Verfassung, werden wir zu fragen anfangen, ob wir nicht doch recht gehabt haben und die Erde sich dreht…. Sollte uns aber dann jede andere Annahme als diese unter den Händen zerronnen sein, dann keine Gnade mehr mit denen, die nicht geforscht haben und doch reden. Nehmt das Tuch vom Fernrohr und richtet es auf die Sonne!

Ich danke, für Eure Aufmerksamkeit.

veröffentlicht in:
MARXISTISCHE BLÄTTER, Flugschrift 22/2006

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