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!["Leben des Galilei" 1955 am Berliner Ensemble: Probe mit Martin Flörchinger, Bertolt Brecht und Ernst Busch](images/1955galilei_floerchingerbrechtbusch_s.jpg)
"Leben des Galilei" 1955
am Berliner Ensemble:
Probe mit Martin Flörchinger, Bertolt Brecht
und Ernst Busch (v.l.n.r.)
![Anthony Hopkins am National Theatre als Coriolan](images/1971hopkins&ensemble_s.jpg)
1971 "Coriolanus"
in der Regie von Tenschert/Wekwerth am National
Theatre London:
Szene mit Anthony Hopkins (Mitte)
![Shakespeare's "König Richard III." in der Inszenierung von Manfred Wekwerth am "neuen theater halle"](images/1997richard_III_halle_1s.jpg)
"neues theater halle"
1997:
"König Richard III."
in der Inszenierung von Manfred Wekwerth
![Richard III. in Halle 1997](images/1997richard_III_halle2_s.jpg) "neues theater halle"
1997:
"König Richard III."
![](images/1997richard_III_halle3_s.jpg)
"neues theater halle"
1997:
"König Richard III."
in der Inszenierung von Manfred Wekwerth
![1987 am BERLINER ENSEMBLE: "Fatzer" in der Regie von Tenschert/Wekwerth](images/1987fatzer_s.jpg)
"FATZER"
1987 am BERLINER ENSEMBLE in der Regie von Wekwerth/Tenschert
mit
Arno Wyzniewski, Hans-Peter Reinicke,
Martin Seifert, Ekkehard Schall (v.l.n.r.)
©Vera Tenschert
!["Herr Puntila und sein Knecht Matti"](images/1995puntila_halle1_s.jpg)
"Herr Puntila und sein
Knecht Matti" 1995 am "neuen theater halle"
mit Hilmar Eichhorn
!["Herr Puntila und sein Knecht Matti" 1995 am "neuen theater halle"](images/1995puntila_halle2_s.jpg)
"Herr
Puntila und sein Knecht Matti" 1995 am "neuen
theater halle" mit Hilmar Eichhorn,
Falk Rockstroh
![](images/1995puntila_halle3_s.jpg)
Hilmar Eichhorn als Puntila
![](images/1995puntila_halle4_s.jpg)
"Herr
Puntila und sein Knecht Matti"
1995 am "neuen theater halle"
![](images/2001jedermann_halle2_s.jpg)
![](images/2001jedermann_halle1_s.jpg)
2001 "Jedermann" im Dom
zu Halle
![](images/2001jedermann_halle3_s.jpg)
2001
"Jedermann" im Dom zu Halle
![](images/2003faustus_halle_s.jpg)
2003 in Halle: "Doktor
Faustus"
(The Tragicall History of Doctor Faustus)
von Christopher Marlowe
![](images/2003faustus_halle2_s.jpg)
2003
in Halle: "Doktor Faustus"
von Christopher Marlowe in Übersetzung
und Bearbeitung von Wekwerth
![](/images/2003faustus_halle3_s.jpg)
2003 in Halle: "Doktor
Faustus"
mit Hilmar Eichhorn
![](images/2003faustus_halle4_s.jpg)
2003
in Halle:
"The Tragicall History of Doctor Faustus"
Andreas Range als Mephistopheles
![Helene Weigel und Ernst Busch in "Mutter Courage und ihre Kinder"](images/courage_weigel+busch_s.jpg)
Helene Weigel und Ernst
Busch im Film
"Mutter Courage und ihre Kinder"
(Regie: Wekwerth/Palitzsch)
nach der Inszenierung am Berliner Ensemble
|
Politisches
Theater und Philosophie der Praxis
oder
Wie Brecht Theater machte
Ein Interview
mit Manfred Wekwerth
Anläßlich des fünfzigsten
Todestages von Bertolt Brecht am 14. August
2006 sprach Z mit dem Regisseur Manfred
Wekwerth. Das Gespräch fand am 23. November
2005 in Berlin-Grünau statt. Die Fragen
stellten David Salomon und Guido Speckmann.
"Wer
Philosophie treibt, der soll nicht überreden,
sondern zeigen und zu denken geben."
(Brecht)
Z: Im August 1956 starb Bertolt
Brecht. In Ihren Memoiren beschreiben Sie, wie
Sie Anfang der 50er Jahre zu Brecht gekommen
sind. Wie empfanden Sie persönlich diese
Zeit. Und welchen Eindruck machte das Berliner
Ensemble damals auf Sie?
W.: Wie ich zum Berliner Ensemble
gekommen bin, klingt heute abenteuerlich. Damals
fand ich es zeitgemäß. Amerika, sagte
man, sei das Land der unbegrenzten Möglichkeiten,
aber der Osten war es zu Zeiten nicht minder.
Hier waren die Verhältnisse in wunderbarer
Unordnung, denn hier war ein großer Umbruch
im Gang. Die "ostelbischen Junker",
berühmt für ihre Lust zu Kriegen,
waren enteignet, ihr Großgrundbesitz unter
landlosen Landarbeitern aufgeteilt; es gab in
Sachsen eine Volksabstimmung über die Enteignung
der nicht weniger kriegerischen Großindustrie;
es wurden "Arbeiter- und Bauernfakultäten"
eingerichtet, wo die studierten, die bisher
nie hatten studieren können. Vor allem
neue Lehrer wurden gebraucht, nachdem die "Machtverehrer,
Hirnverheerer"(Brecht) radikal aus den
Schulen geflogen waren. Es war eine "Umwälzung
von Grund auf", wie Volker Braun gern Engels
zitiert. In jeder Stadt, in jedem Dorf gab es
Leute, die aus Konzentrationslagern kamen oder
aus der Emigration, Kommunisten und Sozialdemoraten,
bei uns in Köthen auch Liberale, bereit"
die Sache in die Hand zu nehmen". Die "Russen",
sonst nicht zimperlich, hielten sich da sehr
zurück, ja, sie untersagten "Radikalen"
die Übernahme des Sowjet-Systems und bestanden
auf einer "antifaschistisch-demokratischen
Ordnung". In unserer Stadt Köthen
wurde 1945 eine Vereinigung von KPD und SPD,
die spontan erfolgt war, von den "Russen"
rückgängig gemacht. Es wurde allerorts
leidenschaftlich gestritten über das, was
geschehen soll und wie es geschehen soll. Einig
war man sich in einem Punkt: Alles muß
anders werden, wie wird sich finden. Da die
Alt-Nazis auch aus Verwaltung, Justiz, usw.
entfernt waren, mußten diese Leute oft
über Nacht "Ämter" übernehmen.
In Köthen wurde der "Lumpenhändler"
Elstermann, ein alter Sozialdemokrat, Oberbürgermeister.
Diese Leute mußten das Leiten lernten,
indem sie es taten. Es gab damals die berühmten
Funktionärs-Witze: "Ein Polizist fährt
mit seinem Fahrrad in eine Einbahnstraße
und sagt, von einem Bewohner aufmerksam gemacht:
"Wozu soll ich wissen, was eine Einbahnstraße
ist, Hauptsache ich weiß, was ein Nazi
ist." Nur eines war für alle sicher:
der Krieg war aus, die Zukunft unbekannt, das
heißt, nach vorn offen.
Ich war noch im April 1945, als der "Volkssturm"
sich nicht mehr vermeiden ließ, drei Tage
"im Kriegseinsatz", aber hauptsächlich
damit beschäftigt zu vermeiden, eine der
knappen Waffen abzubekommen. Ich habe eine von
Gott verliehene Gabe: Ich bin vorsichtig. Militärisch
heißt das, glaube ist, feige. Als mir
doch eine Panzerfaust in die Hand gedrückt
wurde und man mich zusammen mit meinem Fahrrad
zum "Panzerjagdkommando" ernannte
und den Befehl gab, mich in Richtung Magdeburg
in Bewegung zu setzen, um Panzer zu jagen, ging
ich auf kürzesten Weg nach Hause. Ich schwor
mir bei der Gelegenheit, in diesem Leben nicht
mehr militärisch tätig zu werden.
Das habe ich eingehalten. Fanatische Nazis gab
es in meiner Oberschul-Klasse kaum, dafür
bereitwillige "Mitmacher". Die Nazis
hatten mit demagogischem Gespür die Hitlerjugend
nicht vor allem politisch gedrillt, sondern
sich das für Jugend Verlockende von überall
zusammengeklaut. Von den Pfadfinder, den Wandervögeln,
den Worpswedern, selbst von den englischen Boyscouts.
Von der Arbeitbewegung klauten sie sogar die
Lieder, die sie mit neuem Text versahen. Wo
man einst sang: "Brüder zur Sonne,
zur Freiheit", sangen wir: "Brüder
in Zechen und Gruben". Es war eine geschickte
Mischung von Rübezahl-Romantik und Abenteuerlustigkeit,
hinter der sich der Opfergang verbarg. Drei
aus meiner Klasse, die mit einem fröhlichen
"Ich bin ein freier Wildbretschütz
und hab ein weit's Revier" auf den Lippen
wirklich auf Panzerjagd gingen, mußten
feststellen, daß Panzer wesentlich mehr
Überlebenschancen haben.
Unsere Generation war am Ende des Krieges in
jedem Sinn von absoluten Kopflosigkeit befallen.
Selbst wenn man nicht begeisterter Nazis war,
hatten die Nazis doch die Gehirne geleert und
mit leicht entzündbarem Stroh aufgefüllt:
Das "Faustische", so hörten wir,
sei eine deutsche Eigenschaft, die berechtige
jeden, der nach "Wahrheit" strebt,
über Leichen zu gehen. Von Einstein wußten
wir, daß er ein "Relativitäts-Jude"
sei, der mit gefälschten Naturgesetzen
dem deutschen Volk schaden wolle. Und von Marx,
daß er die Arbeit zur Ware erniedrigt
habe und Syphilis hatte.
Nach dem Krieg fiel man in ein Nichts. Man konnte
sich an nichts mehr halten. Also blieb gar einem
gar nichts anderes übrig, als selbst nachzudenken.
Wir hatten in Köthen einen Pfarrer Karl
Hüllweck, offiziell Prediger in Sankt Jacob,
insgeheim Existentialist. Zu ihm konnte man
Donnerstag nachmittags kommen, bekam heißen
Tee und gute Worte und hatte für zwei Stunden
einen "Platz in der Herberge". Bei
ihm lasen wir Sören Kirkegaard, Meister
Eckart und den "Ackermann aus Böhmen",
aber auch Sartres "Die Fliegen". Hier
entdeckte ich die riesigen weißen Flecken
in meinem Gehirn: die Unwissenheit, die uns
die Nazis hinterlassen hatten.
In dieses Vakuum fiel wie aus heiterem Himmel
mir ein Stück in die Hand. Ziemlich zerlesen,
auf dünnem Papier hektographiert. "Die
Gewehre der Frau Carrar", ein Stück
über den Spanischen Bürgerkrieg, geschrieben
von einem Bert Brecht. Und da wir - um nicht
der Lethargie zu verfallen - eine Laienspielgruppe
gegründet hatten und nach Stücken
suchten, war uns jedes Stück recht. Aber
dieses Stück hatte etwas Besonderes. Die
verknappte dabei reale Sprache und die dichte
Handlung übten einen mir bis dahin unbekannten
Sog aus. Von Brecht hatten wir 1945 noch kaum
etwas gehört. Das erste war im Radio das
"Solidaritätslied", gesungen
von Ernst Busch. Dieses Lied, mehr noch diese
Stimme bewirkten bei mir mehr als politische
Aufklärung ein endliches Erwachen aus dem
Idiotentiefschlaf. Dieses Stück nun "haute
mich um", ja, ich schämte mich plötzlich,
wie erbärmlich unwissend wir eigentlich
bisher gelebt hatten. (Als ich später Brecht
davon erzählte, war er erschrocken: Er
wolle eigentlich niemanden umhauen, sondern
aufrichten. Ich beruhigte ihn, ohne mich damals
"umzuhauen", hätte es für
mich auch kein Aufrichten gegeben ). Wir beschlossen,
das Stück zu machen. Ich kannte einen Arbeiter,
der vor 1933 in proletarischen Chören gesungen
hatte. Er kam öfter zu uns in die Laienspielgruppe,
mochte aber Theater eigentlich überhaupt
nicht, für ihn war es "Verstellerei".
Ständig mäkelte er an uns herum wegen
"zu lascher Haltung bei der Kunstausübung"
und wollte uns die "proletarische Grundstellung"
beibringen, mit der er in Arbeiterchören
gesungen hätte: Beine gespreizt, herunterhängende
gekreuzte Arme, geballte Fäuste. Wir haben
ihn eigentlich nicht ganz ernst genommen und
er uns nicht. Aber es war eine Aura um ihn:
Ein richtiger Arbeiter von der Drehbank! Den
fragte ich also, ob er Lust habe, die Rolle
des Arbeiters und Milizionärs Pedro in
dem Stück zu spielen. Er erklärte
mich für verrückt. Und, um die Unsinnigkeit
zu beweisen, las er den Text "ohne Kunst"
herunter. Zu seiner Verblüffung waren wir
begeistert. Mit deiner Stimme und dieser Haltung
mußte er "gar nichts machen".
Da stand eine reale Figur vor uns. Er hat sich
zähneknirschend bereit erklärt, sagte
aber noch: "Ihr werdet euch wundern, wie
das ausgeht." Damit sollte er Recht behalten.
Wir haben Brecht zur Premiere eingeladen. Wir
waren der Meinung, wenn wir schon ein Stück
von ihm machen, ist es recht und billig, daß
er kommt und sich das anschaut. Bescheidenheit
war unsere Sache nicht, sie wäre in diesem
Fall auch nur hinderlich gewesen. Doch sagten
wir uns, eine einfache Einladung reicht für
so einen berühmten Mann nicht aus, hier
ist ein wenig Nachdruck nötig. Wir kannten
Horst Sindermann, damals in Köthen Chefredakteur
der Tageszeitung FREIHEIT, später war er
übrigens Politbüromitglied. Damals
aber einer, "mit dem man Pferde stehlen
konnte". Und so etwas hatten wir ja vor.
Ihn baten wir, in der FREIHEIT zu drucken: Zur
Premiere ist der Autor Bert Brecht anwesend.
Und der druckte das. Wir schnitten es aus
und schickten das Ganze nach Berlin. Adresse:
BERT BRECHT, BERLINER ENSEMBLE. Dann haben wir
gewartet. Entweder ist er der große Mann,
wie es heißt, dann hat er Humor und kommt,
Kommt er nicht, ist das mit der Größe
ist ein Gerücht. Er kam zwar nicht, schickte
aber die zwei Autobusse des Berliner Ensembles
mit der Bitte, einzusteigen und unsere Inszenierung
in Berlin zu zeigen. Da wir von der "großen
Theaterwelt" keine Ahnung hatten, fuhren
wir dahin wie in jede Dorfkneipe, in der wir
gespielt hatten. Hätten wir gewußt,
wen Helene Weigel auf die Probebühne des
Berliner Ensemble eingeladen hatte, wir hätten
kein Wort herausgebracht: Ernst Busch, Therese
Giehse, Erwin Geschonneck, Paul Dessau, Hanns
Eisler, Elisabeth Hauptmann, Ruth Berlau, Wolfgang
Harich, Jakob Walcher, Paul Wandel (immerhin
Kulturminister!), die Ost-Berliner Intendanten,
alle Schauspieler des Berliner Ensemble. Und
sie alle waren sehr gerührt, daß
"junge Menschen aus der Provinz ein halbes
Jahr daran gearbeitet haben" und klatschten
enorm. Brecht war der einzige, der uns ernst
nahm. Er war nicht gerührt, er kritisierte
uns. Da seien ziemliche Fehler. Und er inszenierte
sie um. Vor allem die Figur der Carrar, die
Brecht zu "dampfig" fand. Denn für
uns war die Carrar vor allem Spanierin (jedenfalls
was wir uns unter Spanien vorstellten) und nicht
eine Fischersfrau. Und Brecht strich die "Hitze",
und stellte die Fischersfrau her. Das dauerte
zwei Stunden bis gegen Mitternacht. Mitternacht
war mein Hauptdarsteller, der nichts vom Theater
wissen wollte, Schauspieler am Berliner Ensemble.
Von Brecht engagiert, weil er ihm "gern
zugeschaut" habe. Ich war sauer, denn ich
war schließlich der Regisseur. Am nächsten
Morgen - wir wollten gerade abfahren - traf
ich Brecht an der Tür. Brecht muß
meinen Frust gemerkt haben, denn er sagte unvermittelt,
er hätte gesehen, daß da noch viel
gelernt werden müsse. Ich dachte, nun kommt
das übliche: Sie können ja wiederkommen,
wenn Sie etwas gelernt haben. Aber Brecht sagte:
"Wenn Sie Lust haben, können Sie das
am Berliner Ensemble zu tun. " Das war
im März 1951.
Z: Das Berliner Ensemble
unterhielt auch Kontakt zu Betrieben und Belegschaften.
W.: Bevor 1948 die - heute legendäre
- Premiere von "Mutter Courage und ihre Kinder"
im Deutschen Theater in Berlin stattfand (Brecht
hatte ja noch kein eigenes Theater), bestand
er darauf, eine Vor-Aufführung vor Fabrikarbeitern
zu machen. Die fand, was die wenigsten wissen,
tatsächlich statt. Brecht lag an der Meinung
dieser Leute. Er sprach nach der Aufführung
mit ihnen. Die Arbeiter hatten bei der für sie
ungewohnten Aufführung viele Fragen, Kritiken,
es gab auch schroffe Ablehnung und Unverständnis.
Brecht beantwortete alles mit großer Geduld.
Darüber gibt es Notizen von ihm ("Gespräch mit
einem jungen Zuschauer 1948"). Das war ja das
Publikum für das Brecht mit Vorliebe schrieb
oder schreiben wollte. Das bestreiten "Brecht-Kenner"
heute allerdings. Das Berliner Ensemble hatte
von Anfang an Verbindungen zu Produktions-Betrieben.
Bei meinem Einstellungs- Gespräch mit Helene
Weigel bekamen ich und "mein" Pedro, jener Arbeiter,
der nunmehr Schauspieler war, nicht nur den
Auftrag, das Theatermachen zu erlernen, sondern
sie schickte uns vom ersten Tag an in Produktions-Betriebe,
weil wir , wie sie sagte, im Umgang mit Arbeitern
Erfahrung hätten. Und sie wollte vor allem die
Arbeiter als Zuschauer gewinnen. Es gab in Berlin
einen Betrieb, der hieß Secura und stellte Registrierkassen
her, Mit ihm hatte das BE einen festen Vertrag:
Die kamen regelmäßig zu uns ins Theater und
wir gingen zu ihnen und diskutierten über die
Aufführungen. Als der Betrieb einmal "Planschulden"
hatte, schlugen Brecht und Weigel vor, ihnen
auch "praktisch zu helfen", kurz: mit zu arbeiten.
Und da wir offenbar nicht all zu große Lust
zeigten, ging Brecht mit gutem Beispiel voraus.
An einer Werkbank "schliff" er frisch lackierte
Kassen. Nicht sehr lange, eine Stunde vielleicht,
und wir mußten es etwas länger tun. Aber er
hat das mit großem Ernst getan.
Wir hatten später einen ständigen Kontakt zu
Buna. Buna ist die Kurzform für "Petrolchemisches
Kombinat Buna -Merseburg". Ein riesiger Betrieb
in der Nähe von Halle, zuständig für Plaste
- Herstellung. Die Buna-Werke wurden damals
von einem berühmten Generaldirektor geleitet
Er galt als großer Fachmann und zugleich als
großer "Menschenfischer", wie es in der Bibel
heißt. Das heißt die Leute liefen ihm zu, was
bei dem ständigen Arbeitskräfte-Mangel in der
DDR sehr wichtig war. Dieser Chef wurde so verehrt
oder ließ sich so verehren, daß in den Büros
keine Bilder vom Staatspräsidenten Wilhelm Pieck
hingen, sondern seine. Es war echter, aber eben
ehrlicher Personenkult. Mit diesem Betrieb hatte
das Berliner Ensemble einen Vertrag. Vier bis
fünf Mal im Jahr kamen ca. 800 Leute zu uns
nach Berlin ins Berliner Ensemble. Dafür mietete
der Betrieb bei der Reichsbahn einen ganzen
Zug, der die Leute bei Tagesanfang nach Berlin
transportierte. Die Leute, es waren auf unseren
Wunsch hauptsächlich Arbeiter, hatten tagsüber
Gelegenheit, sich Berlin anzuschauen und kamen
abends zu uns ins Theater. Nachts fuhren sie
zurück. Einmal sahen die "Bunesen" "Die Tragödie
des Coriolan" von Shakespeare in der Bearbeitung
von Brecht. In dem Stück geht es um einen erfolgreichen
römischen Feldherrn, der, aus dem Krieg zurückgekehrt,
zum Konsul gewählt wird, da das Volk den "Sieger
von Corioli" kultisch verehrt. Als Konsul versuchte
er durchzusetzen, daß die Rechte des Volkes,
zum Beispiel sich Tribunen zu wählen, wieder
abgebaut werden, indem er mit seinen Verdiensten
erpreßt. Er hält sich für unersetzbar. Nach
heftigen Auseinandersetzungen verbannt ihn das
Volk aus Rom. Ist es bei Shakespeare das "wankelmütige
Volk", das zu "billig" ist für einen so großen
Mann, drehte Brecht die Geschichte um: bei ihm
der große Mann ist zu teuer für das Volk. Er
muß ersetzt werden. Damals war "Coriolan" auch
ein Beitrag des Berliner Ensemble zur Diskussion
um Stalin und den "Personenkult". Wir wollten
zeigen, daß für einen Personenkult nicht nur
die Person verantwortlich gemacht werden kann,
sondern vor allem jene, die den Kult betreiben.
Also die Leute selber.
In dieser Zeit kam es in Buna zu einer Diskussion.
Viele fragten plötzlich, warum der Generaldirektor
Bilder von sich im Betrieb aufhängen läßt oder
es duldet. Denn der Generaldirektor setzte zunehmend
seinen Willen durch mit der Drohung: "Wenn das
nicht akzeptiert wird, trete ich zurück". Und
offenbar neigte man dann dazu, "umzufallen"
und ihn gewähren zu lassen. Irgendwann erinnerte
sich einer an "Coriolan" im Berliner Ensemble,
zog bei einer Diskussion das Programmheft hervor
und las vor, was Brecht über "große Männer"
dachte, die sich für unersetzlich halten und
die mit ihren Verdiensten die Gesellschaft erpressen:
Sie müssen im Interesse des Weiterbestandes
der Gesellschaft ersetzt werden, auch wenn das
zunächst ein Verlust ist. Tatsächlich trat der
Generaldirektor dann irgendwann zurück. Ich
will nicht behaupten, daß es die Folge des Theaterbesuchs
war, aber mitgeholfen hat das bestimmt. In diesem
Fall beförderte "Coriolan" nicht nur in Rom,
sondern auch in Buna das Unbehagen mit dem Kult
um den "großen Mann", an dem die Leute nicht
unschuldig waren. Im Gegenteil, sie waren es
ja, die seine Bilder am Arbeitsplatz aufhängten.
Bei ihnen kam wahrscheinlich so etwas wie Scham
auf.
Oft wird behauptet, auch wirksames Theater könne
in Wirklichkeit nichts bewirken. Tatsächlich
wirkt Theater nie direkt, aber es kann indirekt
viel auslösen. Oft aus der Erinnerung heraus.
Durch Haltungen, Figuren, Impulse, die sich
eingeprägt haben, ohne daß man sich dessen in
jedem Moment bewußt ist. Es wird Teil des "Erfahrungsbewußtseins".
Es geht oft "unbewußt" in den Alltag ein. Es
wird Gewohnheit.
Von Brecht heißt es immer, er wolle mit seinem
Theater Gewohnheiten zerstören. Alte Gewohnheiten
zu zerstören heißt aber, neue Gewohnheiten zu
schaffen. Denn gewohnte Verhaltensweisen regeln
als Teil des Unterbewußten die meisten unserer
Lebensabläufe. Brecht zitierte gern Lenins Satz,
daß in der Kultur nur das als erreicht gelten
könne, was in den Alltag, was in die Gewohnheit
eingedrungen ist. Erst wenn Menschen, die zum
Beispiel nicht denken, beginnen sich so darüber
zu schämen, als gingen sie nackt über die Straße,
könne man vom Beginn einer Kulturrevolution
zu reden.
In Buna sprach man noch lange davon, daß den
Generaldirektor das Schicksal des General Coriolan
ereilt habe. Das sagte man nicht ohne ein Schmunzeln.
Der Generaldirektor hatte uns nämlich kurz zuvor
ziemlich unwirsch gefragt, worin denn eigentlich
der Nutzen der Theaterbesuche liege. Er bezahle
den Leuten ständig die teuren Theaterfahrten
zum Berliner Ensemble, aber die Arbeiter würden
am nächsten Morgen keinesfalls besser arbeiteten,
im Gegenteil, sie wären müde. "Wo ist da ein
Nutzen der Kunst?" Er sollte es auf unerwartete
Weise erfahren.
Die Beziehung zwischen dem Berliner Ensemble
und dem Chemie-Kombinat Buna waren sicher einmalig.
So etwas hat es meines Wissens in der Theatergeschichte
noch nicht gegeben. Wir bauten dort eine regelrechte
Abenduniversität auf. Es wurde über Theater
gesprochen über Ästhetik, Musik, über Philosophie,
über Politik, über Schauspielkunst, über Bühnenbild,
aber auch über ganz alltägliche Probleme der
Buna-Leute. "Dozenten" waren Helene Weigel,
der Chefdramaturg Tenschert, der Komponist Paul
Dessau, der Bühnenbildner Karl von Appen, die
Schauspieler Ekkehard Schall, Ernst Busch, Hilmar
Thate, sogar unser "weltberühmter" Theaterplastiker
Eddie Fischer, der die Theater in der halben
Welt mit feuerspeienden Drachen für "Siegfried",
steinernen Gästen für "Don Giovanni" und Kühen
für Händelopern versorgte, unterrichtete den
Arbeiter-Zirkel für Bildhauerei und Plastik.
. Neben den "Lektionen" berieten Schauspieler
die Laienspielgruppe des Betriebes und unsere
Musiker kümmerten sich um das Laienorchester,
ja Dessau komponierte mit ihnen gemeinsam.
Eine Münchner Filmgruppe hat vor einem Jahr
das Kulturhaus in Buna entdeckt und damit alles,
was damals dort an Kultur vor sich ging. Denn
heute steht es leer, da Buna "abgewickelt" wurde.
Das Kulturhaus soll an jemanden verscheuert
werden, der daraus eine Disko machen will. Das
Filmteam hat gründlich bei "Zeitzeugen" recherchiert
und will einen Dokumentarfilm darüber drehen.
Sie sind mit dem Drehbuch zu den Fernsehsendern
gelaufen. Beim Mitteldeutschen Rundfunk wurde
ihnen mitgeteilt, daß ihr Bericht zwar interessant
sei, aber falsch. Dieser Film müsse durch die
"Wahrheit" ergänzt werden. Und die Wahrheit
ist der "Unrechtsstaat" (Mauer und Stasi) und
der "Kultur-Begriff der DDR, nach dem die Kultur
ausschließlich propagandistischen Zwecken untergeordnet
war". Ohne diese "Ergänzungen" gäbe es für den
Film keine Chance. Ich erinnere mich, noch 1998,
anläßlich des hundertsten Geburtstags von Brecht
begründeten Fernsehsender, wenn sie ein Drehbuch
politisch ablehnten, etwas vorsichtiger, zum
Beispiel mit fehlendem Geld. Heute sagen sie
die Wahrheit, ihre Wahrheit: Ein Film
über die DDR muß mit ihrem Bild der DDR übereinstimmen.
Die Fernsehsender haben zu ihrer Ehrlichkeit
zurückgefunden. "Die herrschende Meinung ist
die Meinung der Herrschenden", sagte einmal
einer, der es wissen mußte.
Z: Wie war das Arbeitsklima am
Berliner Ensemble und welches Verhältnis
hatten die Schüler zu Brecht?
W.: Im Berliner Ensemble wurde
man nach der Güte seiner Vorschläge bewertet,
nicht nach Güte seines "Namens". Sicher, Brecht
war die "zentrale" Autorität, aber wir hatten
vor Brecht weder Angst noch übermäßigen Respekt.
Und er schien das auch so zu wollen. Ich war
schließlich "Laienspieler", als ich im Berliner
Ensemble anfing. Und natürlich waren die bereits
"Etablierten" wie Peter Palitzsch, mit dem ich
später zusammengearbeitet habe und befreundet
war, von knalligem Selbstbewußtsein, man kann
es auch Hochmut nennen. Bei Brecht fehlte das.
Er fragte bei Mitarbeitern nie nach dem Status,
den sie bereits im Theater oder in der Öffentlichkeit
hatten, sondern nach Nützlichkeit. Man kann
es auch Brechts Philosophie der Brauchbarkeit
nennen. Brauchbarkeit nicht im Sinne von Ausnutzen,
wie es heute oft blödsinniger behauptet wird,
es ging Brecht dabei um "die dritte Sache".
Einer Sache also, der man gemeinsam nutzte.
Auch um sich über "die dritte Sache" menschlich
näher zu kommen. Beurteilt wurde man nicht,
wie lange man schon beim Ensemble war oder was
man an Erfolgen vorzuweisen hatte, beurteilt
wurde man nach dem, was man im Moment konkret
an Vorschlägen, Kritiken, Beiträgen einbrachte.
Ich war ganze drei Tage am Berliner Ensemble,
als ich "ins Wasser geworfen wurde und schwimmen
mußte". Ich wurde Brechts Assistent bei seiner
Neu-Inszenierung der "Mutter Courage".
Unwissenheit ist unbescheiden. Ich habe sofort
meine Vorschläge gemacht und sie wurden zu meiner
Überraschung angenommen. Kein Mensch kannte
mich dort, aber Brecht sagte: "Wekwerth meint
folgendes ...". Vorschläge konnten noch so verrückt
sein, man mußte sie begründen können. Vorschläge
ohne Begründung ertrug Brecht nicht. Da gab
es schon mal Wutausbrüche. Und gekonnte Wutausbrüche
beherrschte Brecht ebenso perfekt wie schallendes
Gelächter. Beides kam aus dem Herzen. Lachen
liebte er auf Proben eigentlich am meisten.
Und es war - auch bei ernsten Szenen - meist
ein Zeichen seiner Zustimmung. Er konnte sich
auch vor Lachen "ausschütten", wenn etwas "stimmte",
also vom Schauspieler gut beobachtet war. Es
mußte nicht einmal komisch sein. In seinen theoretischen
Schriften nennt Brecht so etwas anspruchsvoller:
Die Kunst der Beobachtung, die er übrigens wie
Denis Diderot für den Ausgangspunkt aller Schauspielkunst
hält. Doch auch hier sollte man mit Legenden
von "Brecht, dem Gerechten" oder "Brecht, dem
Weisen" vorsichtig sein. Wutanfälle kamen manchmal
auch wie Blitze aus heiterem Himmel. Selbst
ein harmloser Scheinwerfer, ein bißchen zu früh
eingeschaltet, konnte Hurrikans auslösen. Dafür
gab es - vor allem unter den Bühnen-Technikern
- das geflügelte Wort: "Brecht geht vor Recht".
Z: Konnte man Brecht kritisieren?
W.: Der Legende, nach ja, und
er soll Kritik geliebt haben. Das ist natürlich
Quatsch. Kein Mensch "liebt" Kritik.
Oder vielleicht theoretisch, also im Hegelschen
oder Marx'schen Sinne, wo Kritik als Voraussetzung
von Veränderungen immer positiv ist. Ohne
"kritische Haltung" ist weder Brecht
noch sein Theater denkbar. Aber im konkreten
Fall wich die Liebe zur Kritik leicht dem Unmut.
Sagte man Brecht nach einer Probe "Brecht,
was Sie da gemacht haben, finde ich falsch"
(schließlich sollte man alle Einwände
sagen), kam oft nur ein stummer Blick. Bestenfalls
ein: "Schreiben sie es auf." Direkte
Begeisterung konnte ich eigentlich nicht feststellen.
Brecht hatte, von mir assistiert, das DDR-Gegenwartsstück
"Katzgraben" von Erwin Strittmatter
inszeniert und wir waren stolz, endlich einen
positiven Schluß gefunden zu haben. Sicher
etwas "romantisiert", da die Realität
an "positiven Schlüssen" damals
nicht all zu viel hergab. Palitzsch, gerade
zurück aus Schweden, sah die Premiere.
Am Ende ging Brecht erwartungsvoll auf ihn zu:
"Palitzsch, wie fanden sie den neuen Schluß?".
Palitzsch, der als Sachse kein "sch"
sprechen konnte, sagte: "mörderich".
Fassungslos drehte sich Brecht auf dem Absatz
herum und ließ Palitzsch stehen. Vier
Wochen lang sprach er nicht mit ihm und wenn,
dann mit der Anrede "Herr Palitzsch",
bei ihm der äußerste Grad von Verachtung.
Irgendwann kam aber dann der Brecht wieder durch.
Nach drei Wochen rief Brecht bei Palitzsch an,
es war ziemlich spätabends. Palitzsch wußte
das noch so genau, weil er zu dieser Zeit mit
einer Mitarbeiterin im Bett lag, deren Bewunderung
wegen ihrer "proletarischen" Herkunft
er mit Brecht teilte. Brecht sagte: "Störe
ich", so begann bei ihm jedes Telefongespräch,
und ohne die Antwort darauf abzuwarten, begann
er nach allem möglichen zu fragen, wonach
er auch am nächsten Morgen hätte fragen
können. Als Palitzsch verwundert den Hörer
auflegen wollte, kam - immerhin nach drei Wochen
- dann die Frage: "Und warum mörderisch?"
Z: Inwiefern kam da der Brecht
durch?
W.: Brecht hatte in dieser Beziehung
etwas von seinem Galilei, der auch nicht der
"Verführung widerstehen kann, die von einem
Beweis ausgeht". Brecht war ein kommunikativer
Mensch. Er brauchte zum Denken das Gespräch,
also den anderen Menschen. Man könnte auch sagen,
er lebte auch "privat" die von ihm geschätzte
Philosophie der Praxis. Denken war für ihn handeln,
eben sprechen, diskutieren, kritisieren, planen,
entwerfen, verwerfen usw. Ein Gedanke existierte
für ihn erst, wenn er ausgesprochen, besser
aufgeschrieben war. Brecht brauchte immer jemanden,
mit dem er denken, also reden konnte. Seine
Neigung zum kollektiven Arbeiten kam bei ihm
nicht - wie es in Biografien steht - aus "sittlich-politischem
Bekenntnis zum Kollektiv", sondern aus ureigenstem
Bedürfnis. Aber auch nicht - wie es auch in
Biografien steht - um jemanden auszubeuten.
Es war seine produktive Unfähigkeit, allein
arbeiten zu können oder zu wollen. Selbst, wenn
er Gedichte schrieb, wurde man gerufen, weil
er ein Gedicht, das er geschrieben hatte, vorlesen
mußte, erst dann existierte es für ihn. "Was
meinen Sie?", war da die stete Frage. Und er
erwartete wirklich eine (begründete!) Meinung.
Überhaupt war das Gespräch, die Diskussion,
das gemeinsame Fabulieren, Lachen, Spekulieren,
"Spinnen", Unsinn eingeschlossen, seine liebste
Arbeits-, Denk- und Lebensweise, sein "Lustgewinn"
(Und ohne Lust, gestand er einmal, könne er
überhaupt nicht arbeiten). Da konnte es spät
abends passieren, daß man angerufen wurde, immer
mit dem höflichen "Störe ich?" Und er störte
ja manchmal wirklich, aber man ging natürlich
hin. Gespräche bei Brecht hatten immer etwas
von großartiger Unterhaltung (nicht umsonst
nennt er Unterhaltung das nobelste Geschäft
des Theaters). Die Gespräche weiteten sich meistens
weit über den eigentlichen Gegenstand aus, man
war schnell bei Gott und der Welt. Der oft als
"mathematischer Logiker" und Rationalist verdächtigte
Brecht, war das Gegenteil. Er genoß geradezu
die Sprünge vom "Hundertsten ins Tausendste".
Auf die Weise entstanden oft die großartigsten
Unternehmungen, die eigentlich gar nicht geplant
waren. An einem Abend entstand so zufällig die
Arbeit an Shakespeares "Coriolan". Wir waren
zusammengekommen, eine Besetzung für Molieres
"Don Juan" zu finden. Über den Vorschlag, Ernst
Busch mit dem Don Juan zu besetzen (Brecht:
"Der würde, um eine Frau zu verführen, doch
keine großen Reden halten, sondern sie in den
Arsch kneifen!"), kam Brecht - mehr als Witz
- darauf, der "Prolet" Busch müsse einmal einen
großen Adligen spielen. Nachdem Friedrich der
Große als zu alt verworfen wurde, kam Brecht
auf den Coriolan. Zum Schluß hatten wir keine
Moliere-Besetzung, dafür den Auftrag, mit der
Coriolan-Übersetzung zu beginnen. Über den produktiven
"Unlogiker" Brecht ist noch viel zu wenig geschrieben
worden. Eigentlich dachte er nicht nur dialektisch,
er lebte die Dialektik geradezu: "Die Überraschungen
der logisch fortschreitenden oder der springenden
Entwicklung, der Unstabilität aller Zustände,
der Witz der Widersprüchlichkeiten usw.", schreibt
er 1954. In einem kleinen Gedicht VERGNÜGUNGEN
nennt er neben dem Schreiben, Pflanzen, dem
Hund, dem Reisen und neben neuer Musik, die
Dialektik an 7. Stelle der Vergnügungen. Und
in einer Stalin-Kritik nennt er 1956, kurz vor
seinem Tod, die Abschaffung der Dialektik durch
Stalin dessen größtes Vergehen. Ich habe in
meinem Buch ERINNERN IST LEBEN versucht, diese
Seite Brechts zu beschreiben. Einmal fragte
ich ihn, der bei einem Gespräch wieder einmal
große Sprünge machte und die Sprünge als "Produktivität"
lobte, warum er eine Schrift wie DAS KLEINE
ORGANON FÜR DAS THEATER" dann in derart logischer
Strenge und mit fast lateinischem Satzbau geschrieben
habe. Die Antwort war verblüffend: "Erstens,
damit die Theaterleute, die dazu neigen, alles
sofort zu verstehen, sich etwas mühen müssen;
zweitens, weil ich mich selber disziplinieren
muß, da ich zu spontan bin."
Z: Sie haben eingangs erzählt,
Brecht habe sie zum Lernen engagiert. Wie genau
lernte man am Berliner Ensemble?
W.: Brecht war wahrscheinlich
ein guter Lehrer: er lehrte nicht. Oder besser,
er lehrte, indem er von Anfang an zur Mitarbeit
einlud. Mitarbeit war für ihn die beste Form
des Lernens (und die angenehmste). Es lag an
einem selbst, ob man lernte oder ob man es sein
ließ. So blieben von zwölf "Schülern", die wir
anfangs waren, am Ende drei. Allerdings gab
es auch (vergebliche) Erziehungsmaßnahmen. Alle
Assistenten bekamen einmal einen bösen Brief,
noch dazu zu Weihnachten. Denn Brecht war -
so konnte er nie enttäuscht werden - der festen
Meinung, daß Assistenten faul sind (und hatte
wohl nicht ganz unrecht). In diesem Brief steht
übrigens der berühmte Satz, der inzwischen zum
Brecht-Zitatenschatz zählt: "Das Interesse,
das jemand am Theater nimmt, ist der eigentliche
Gradmesser des Talents." Brecht hatte aber meistens
eine sichere Hand, die Produktivität jedes einzelnen
zu wecken, einfach, indem er dazu einlud. Allerdings
verlangte er Wissen. Und Wissen fehlte uns damals
erheblich. (Heute ist es bei jungen Theaterleuten
wahrscheinlich nicht besser. Oder?) Ob es die
Kenntnis der Bibel war oder des KAPITALS von
Marx, Kenntnis von Cicero, Shakespeare, Kleist,
Einstein, Hölderlin - für Brecht war es "einfach
beschämend", so etwas nicht zu wissen.
Die Proben im BE begannen 10 Uhr. 7 Uhr 30 aber
mußten wir zweimal die Woche uns zu Philosophie-Vorlesungen
bei Wolfgang Harich einstellen. Harich war damals
der jüngste und eigenwilligste marxistische
Philosophie-Dozent an der Humboldt-Universität.
Harich wurde von Brecht sehr geschätzt, wahrscheinlich,
weil Harich auch ihn über alles schätzte. Harich
eröffnet uns damals ein ganzes "Universum" an
unbekanntem Wissen, selbst ein Nicolai Hartmann
oder ein Arnold Gehlen fehlten nicht. Für mich
waren die Vorlesungen bei Harich so etwas wie
"atheistische Pfingstfeste". Uns gingen wunderbare
"Lichter" nicht nur auf dem Kopf auf, sondern
im Kopf auf. Harich vermittelte nicht nur Wissen,
er versetzte einen in den Zustand unbändiger
Neugier. Man entdeckte, was man alles nicht
wußte, aber man entdeckte es mit Freude. Kam
man aus seinen Vorlesungen, war selbst an diesen
frühen Morgenstunden die Welt heiterer, das
Licht heller, der Himmel höher. Schon aus Lust
am Leben war man bemüht, mehr Wissen zu erlangen,
aber eben selbstständig. Es war nicht "verordnet".
Außer daß man zu Harich ging. Das mußten wir
uns sogar von Harich nach jeder Vorlesung quittieren
lassen und Brecht kontrollierte es tatsächlich.
Aber das war das einzige, was er kontrollierte.
Brecht ging, glaube ich, davon aus, daß zu einem
guten Schüler genügend Abneigung gegen Gehorsamkeit
gehört. Das Lernen im Berliner Ensemble folgte,
wenn man so will, einem alten persischen Sprichwort,
daß man nur zu dem erzogen werden kann, was
man letzten Endes selbst will. Oder auch einer
marxistischen Überlegung, daß nur die Selbsttätigkeit
wirklich Wissen verschafft, da ist Genuß an
Wissen vermittelt. Es ist dann Wissen, das zu
einem selbst gehört, da man es selbst erworben
hat. Das ist mehr als bloße geistige Übertragung
von einem Gehirn auf ein anderes. Für Brecht
war Denken ohne Genuß so viel oder so wenig,
wie ein Atmen ohne Luft zu holen .Wenn man eigene
Vorschläge machte, lernte man auch da, wo sie
abgelehnt wurden. Denn man lernte etwas Entscheidendes:
Das Lernen selbst. Heute würde man von "trial
and error" sprechen. Lernen am BE war wirklich
ein praktisch-sinnlicher Vorgang. Ja, es war
mühevoll, aber eine Mühe die Vergnügen machte.
Für Brecht waren alle Denkvorgänge, also auch
das Lernen "Vorgänge", wie überhaupt "Vorgang"
einer seiner Lieblingsbegriffe war. Erst als
Vorgang, in der praktischen Tätigkeit, findet
der Mensch seine Selbstbestätigung, also auch
sich selbst. Was nur ein anderer Ausdruck für
Genuß ist. Im Leben wie in der Kunst. "Erst
was ich verändere, begreife ich."(Brecht) Das
bezieht sich auch auf den einzelnen Menschen
selbst. Der Mensch als Subjekt war für Brecht
keine fertige Tatsache, sondern ständiges Tun.
">Ich< bin keine Person. Ich entstehe jeden
Moment, bleibe in keinem", schreibt er 1930.
Ein dunkler, schöner Satz , der vieles erhellen
kann , auch Brecht und seine Arbeit. Vor allem
eben Brechts Hochschätzung des Genusses, den
er wie ein anderer "Genießer" vor ihm mit Namen
Karl Marx als die "höchste Form menschlicher
Selbsttätigkeit" sieht.
Z: Aber Brecht will doch mit seinem Theater vor allem Erkenntnisse vermitteln.
Heute ergeht gegen ihn ja geradezu der Vorwurf, er wolle das Publikum belehren, als seien es Kinder.
Er verzichte bewußt auf den Kunst-Genuß zu Gunsten von Erkenntnissen. Das sagt immerhin ein Großer
des europäischen Theaters, wie Peter Brook.
W: Bei Brecht übersieht man (oder
will übersehen), daß "Genuß" ein elementarer
Begriff seines Theaters, seines Denkens, seiner
Ästhetik ist. Auch in diesem Punkt teilt er
übrigens das Schicksal seines anderen "genießenden"
Vorgängers aus Trier, dem man ebenfalls nur
"Rationalität" unterstellt. Dabei findet sich
gerade in dem wahrscheinlich "rationellsten"
Buch von Marx, den "Grundrissen der Kritik der
Politischen Ökonomie", auch für Theater das
Anregendste, was ich über Ästhetik kenne. Zum
Beispiel die Analyse des Begriffes "Genuß" als
höchste Tätigkeit des Menschen, die sein Wesen
konstituiert . Der Mensch findet sich als "Selbstzweck"
in seinen Werken bestätigt, und - seine Selbstverwirklichung
genießend - befriedigt er nicht nur Bedürfnisse,
sondern schafft neue. Und erst der "bedürftige"
Mensch - so Marxens Entdeckung - ist der wirklich
"reiche" Mensch. Genuß also nicht als Zustand
"epikureischer Abgeklärtheit", sondern als ständiger
"Aufbruch zu neuen Ufern". Und wenn Sie sich
einmal die Mühe machen, auch die Brechtsche
Texte nicht nur nach Inhalten durchzuschauen,
sondern nach der Statistik, wie oft zum Beispiel
bestimmte Worte vorkommen, werden Sie eine erstaunliche
Feststellung machen. Wissenschaftliche Begriffe
wie "Verändern", "Dialektik", "Widersprüche"
"Produzieren" usw. kommen selten allein vor.
Es heißt meistens "Lust an der Veränderung",
"Spaß an der Dialektik", "Witz der Widersprüche",
" Leidenschaft des Produzierens" usw. Brecht
äußerste in Gesprächen 1956, also kurz vor seinem
Tod, Unbehagen, daß man sein Theater bisher
immer "unnaiv" betrachtete. Er entdeckte in
diesem Gespräch die Naivität eine der wichtigsten
Kategorien, ohne die sein Theater überhaupt
nicht zu verstehen sei. Er meinte damit nicht
die simple Naivität, die Denken ausschließt,
sondern jene Naivität, die dem Denken folgt.
1953 bei der Arbeit an dem Gegenwartsstück "Katzgraben"
formulierte er es einmal so: "Es ist nicht genug
verlangt, wenn man vom Theater nur Erkenntnisse,
aufschlußreiche Abbilder der Wirklichkeit verlangt.
Unser Theater muß die L u s t am Erkennen erregen,
den S p a ß an der Veränderung der Wirklichkeit
organisieren. Unsere Zuschauer müssen nicht
nur hören, wie man den gefesselten Prometheus
befreit, sondern sich auch in der Lust schulen,
ihn zu befreien. Alle Lüste und Späße der Erfinder
und Entdecker, die Triumphgefühle der Befreier
müssen von unserem Theater gelehrt werden."
Eine richtige Erkenntnis, die eine Theateraufführung
vermitteln soll, wird dann erst "richtig", wenn
sie beim Zuschauer "naive" Haltungen auslöst:
Zorn, Freude, Neugier, Haß, Lachen, Protest,
Verwirrung, Bestätigung, Unruhe, Abscheu, Aufatmen,
Verunsicherung, Schrecken, vor allem Verwunderung.
Solche "naiven" Reaktionen vermögen aus dem
"reinen Denken" das von Brecht so geschätzte
"eingreifende Denken" zu machen. Auch bei der
Probenarbeit mochte Brecht nicht den "reinen
Gedanken". Das war ihm einfach zu wenig. Wenn
ein Schauspieler auf der Probe eine längere
Diskussion anfangen wollte (und das tun Schauspieler
merkwürdigerweise leidenschaftlich gern), war
Brechts Antwort fast immer: "Bitte machen Sie
es vor".
Z: Palitzsch hat einmal
darauf hingewiesen, daß Brecht niemals
mit einem vorgefertigten Plan zur Probe gekommen
wäre
W: Benno Besson sagte vor kurzem
in einer Fernsehsendung sogar, Brecht sei auf
den Proben ein reiner Praktiker gewesen und
habe seine eigene Theorie vergessen.
Z: Und er habe nur aus dem jeweiligen
Stück heraus argumentiert, sagt Palitzsch.
W: Das stimmt. Es ist aber die
halbe Wahrheit. Und halbe Wahrheiten sind oft
falscher als ganze Unwahrheit. Palitzschs Sicht
auf die Arbeit Brechts hat sicher auch mit seinem
Wechsel von Ost nach West zu tun. Denn als Chefdramaturg
am Berliner Ensemble galt er bei uns "Jüngeren"
als strenger "Wächter über Dialektik und Epik".
Wehe, es fehlte eine theoretische Begründung!
Oder es schlich sich ein undialektischer Gedanke
ein! Von Werner Mittenzwei stammt das Bonmot,
Palitzsch habe, als er "in den Westen" ging,
zwar Brechts Technik mitgenommen, aber die Politik
vergessen.
Brecht hat auf den Proben tatsächlich nie, oder
nur äußerst ungern und wenn, nur äußerst kurz,
theoretisiert. Das Wort "Verfremdung" zum Beispiel
habe ich von ihm auf Proben nie gehört. Aber
man soll sich da nicht täuschen. Er hat natürlich
- ohne darüber zu theoretisieren - "verfremdet".
Die Theorie war sozusagen "naiv" anwesend. Und
das theoretische Gespräch nach den Proben oder
abends an dem großen Tisch unter dem chinesischen
Rollbild des ZWEIFLERS gehörte zu seinen Lieblingsbeschäftigungen.
Daß er auf den Proben nicht theoretisierte,
hatte einen einfachen Grund: Brecht liebte das
praktische Beispiel. Ihn interessierten bei
einer Szene oder bei einer Figur zunächst immer
die konkreten Vorgänge, nicht deren Bedeutung.
Daß Brecht auf den Proben nicht theoretisierte,
ist für mich nicht das Ignorieren seiner Theorie,
im Gegenteil, es ist das beste Beispiel ihrer
konsequenten Anwendung. Denn Brechts "Theorie
des Theaters" geht von einem elementaren Grundsatz
aus, den er Hegel entlehnt hat: Das Aufsteigen
vom Abstrakten zum Konkreten. Im übrigen mochte
er einen Satz Lenins aus dessen vorrevolutionärer
Zeit: "Ohne revolutionäre Theorie keine revolutionäre
Praxis".
Brecht hatte durchaus "vorgefertigte Pläne".
Sie waren so verläßlich, daß er sie auf den
Proben vergessen konnte, um mit ihnen zu arbeiten.
Also auch hier vom Abstrakten zum Konkreten
aufzusteigen. Dafür mußte das "Abstrakte" aber
erstmal vorhanden sein. Für Brecht gab es für
eine Inszenierung nicht nur einen "vorgefertigten
Plan", sondern zwei: einen historischen und
einen aktuellen. "Mutter Courage und ihre Kinder"
zum Beispiel sollte zeigen daß, historisch gesehen.
die kleinen Leute in den Kriegen der Großen
nichts zu gewinnen und alles zu verlieren haben.
Der aktuelle Gesichtspunkt war 1938 wie 1951
die Warnung vor einem drohenden Krieg.
Für diese abstrakten Gesichtspunkte müssen auf
den Proben konkrete Vorgänge gefunden werden,
nichts anderes heißt "inszenieren". Denn "Jeder
Gedanke muß sich auf der Bühne zur Geste emanzipieren",
war eine der beliebten Faustregeln Brechts.
Die Unlust am "reinen Abstrakten" und die Lust,
Gedanken in Vorgänge umzuarbeiten, war bei Brecht
ein Bedürfnis wie Essen und Trinken. Einmal
sagte er mir: "Dialektik ist für mich Gefühlssache".
Er konnte also gar nicht anders, als zu "dialektisieren..
Ein Begriff übrigens, den er damals 1956 in
jenen letzten Gesprächen erfand. Für ihn hieß
das, Stillstand durch das ständige Aufdecken
der Widersprüche immer wieder in Bewegung zu
bringen. "Endgültige Lösungen" waren ihm ein
Greuel. Er hatte es geradezu zur Leidenschaft
entwickelt, besonders das Gefundene, das ihm
gefiel, immer wieder in Frage zu stellen, um
es erneut zu finden. Das Zweifeln war für ihn
ein Genuß wie das Rauchen. Dem "Lob des Zweifels"
widmete er einige seiner schönsten Gedichte.
Dafür hatte er für sich auf den Proben eine
eigene Technik entwickelt. Er nannte sie - halb
im Ernst, halb im Spaß - die "Kunst des Vergessens".
Hatte er eine "endgültige Lösung" gefunden,
konnte man sicher sein, daß er sie am nächsten
Tag vergessen hatte. Die "Kunst des Vergessens"
war für ihn sicherlich sehr ertragreich, für
uns Assistenten weniger. Einerseits sollten
wir alles Gesagte und Erarbeitete genau fixieren
(möglichst stenografisch), mußten uns aber dann
am nächsten Tag anhören: "Das habe ich nie gesagt,
das haben Sie falsch notiert." Brecht bewahrte
sich allerdings so vor der Berufskrankheit berühmter
Regisseure, die auf der Bühne hauptsächlich
sehen, was nur in ihrem Kopf existiert.
Jene Zweifel an "endgültigen Lösungen" kamen
sicher auch aus der Furcht vor einer noch anderen
merkwürdigen Eigenschaft des Theaters: der Magie.
Oder weniger metaphysisch: der Kunst der Täuschung
. Das ist eine große Macht, im Guten wie im
Bösen. Im Theater ist man bereit, alles für
"bare Münze" zu nehmen. Man sieht wirklich etwas,
was in Wirklichkeit gar nicht gibt. Das Fiktive
gibt sich als Wahrheit aus und, das ist die
Magie, die Leute glauben es am Ende.
Z Wie wirkt sich denn diese Gefahr
aus?
Im schlimmsten Fall als "Theater
des Glaubenmachens". So nannte Brecht zum
Beispiel die Nürnberger Parteitage der
Nazis. Mit ihren choreographisch einstudierten
Millionen-Aufmärschen suggerierten die
Nazis der Öffentlichkeit eine "verschworene
Gemeinschaft eines ganzen Volkes". Das
war inszeniert mit "Pauken und Trompeten",
vor allem mit der großen Pauke gewaltiger
"Führer"-Reden. Leute, die es
hätten besser wissen müssen, nahmen
das alles für Realität. Selbst Antifaschisten,
in aller Herren Länder verschlagen, verfolgten
aus der Ferne dieses "Theater" mit
Erschrecken, weil sie für Wirklichkeit
hielten. Wie schwer es ist, sich diesem "Theater
des Glaubenmachens" zu entziehen, beiweisen
heute noch die pervers-genial gemachten "Dokumentar"-Filme
der Leni Riefenstahl. Heute findet man das "Theater
des Glaubenmachens", etwas harmloser zwar,
aber nicht weniger pervers auch bei Wahlkämpfen,
wenn zum Beispiel kaum zu unterscheidende Parteien
den Wählern wirkliche Kämpfe zwischen
wirklichen Alternativen vorgaukeln.
Aber die "Magie" des Theater hat auch
komische Seiten. Ernst Busch, ein weiß
Gott oder weiß Marx, nicht eben "metaphysischer"
Schauspieler, spielte den Galilei in der letzten
Brecht-Inszenierung, die Erich Engel zu Ende
führte. Ab der hundertsten Vorstellung
war er nicht nur der Meinung, ein großer
Schauspieler zu sein, sondern auch ein großer
Physiker. Und das ist komische Seite des "Theaters
des Glaubenmachens": auch andere glaubten
ihm das. In Zeuthen bei Berlin gab es das "Institut
für Hohe Energien", das Kernforschungsinstitut
der DDR. Diese Physiker sahen eine Galilei-Vorstellung
und wollten anschließend mit dem Darsteller
des Galilei sprechen, was im Berliner Ensemble
üblich war. Sie interessierte, wie man
zum Beispiel Rollen lernt, wie man so viel Text
behält, wie er, Busch, zum Theater gekommen
ist, und was er als Schauspieler fühlt,
wenn Galilei widerruft usw. Sie wollten also
Dinge wissen, die sie nicht wußten. Nach
der Vorstellung trafen sie sich in der Kantine
mit Busch. Busch sprach zu ihrer Verblüffung
sofort über Physik. Und er tat das mit
seiner überzeugenden Stimme und Leidenschaft..
Mindestens eine halbe Stunde lang. Ich wollte
schon im Erdboden versinken, denn ich habe einmal
kurz Physik studiert, aber die Physiker hörten
fasziniert zu, die Physikerelite der DDR! Nach
etwa 30 Minuten kam Busch zu Ende, und die Physiker
applaudierten sehr und bedankten sich. Am nächsten
morgen rief mich Prof. Karl Lanius, der Direktor
des Instituts, an und stellte mir eine Frage:
"Manfred", sagte er in seiner wissenschaftlichen
Bedachtsamkeit, "da ist etwas Merkwürdiges
passiert. Der Busch hat doch gestern nach der
Vorstellung eine halbe Stunde lang über
Physik gesprochen und ich habe erst am nächsten
Morgen gemerkt, daß das alles Quatsch
war."
Hier kommt nach meiner Meinung die archaische
Herkunft des Theaters zum Vorschein. Theater
wurde ursprünglich zum "Glaubenmachen"
geschaffen. Das ist seine riesige Gefahr, und
es ist seine riesige Chance, die es vor anderen,
nicht "lebenden" Künsten hat.
Aber auch in diesem Punkt war Brecht Realist,
denn er wußte um die "Magie"
und nutzte sie als "List der Vernunft".
Hier war er keinesfalls jener "pure Rationalist",
zu dem man ihn so gern stempelt. Oder jener
"reine Aufklärer", dessen Kunst
am Ende nur "Aufkläricht" ist.
Oder "Gesinnungskitsch". Im Gegenteil,
es war gerade Brecht, der das Theater gegen
eine "Rationalisierung der Kunst"
als Stätte verteidigte, "wo das Unbewußte,
Halbbewußte, Unbeherrschte, Vieldeutige,
Vielzweckige sich tummeln könnte".
(Brecht 1938).
Z: Sie haben vorhin erwähnt, daß
Brecht eine Art "Philosophie der Brauchbarkeit"
entwickelte. Wie war Brecht als Philosoph?
W.: Über seinem Bett hing
ein Spruch: Die Wahrheit ist konkret.
Der stammt von Hegel und enthält eigentlich
Brechts ganze Philosophie. Oder besser, sein
"Philosophieren", denn gegenüber
"Philosophie" war er mißtrauisch.
Philosophen nannte er gern mit den Worten des
alten Franz Mehring die "alten Kumpane
der Hirnweberei". Auch bei Hegel mochte
er mehr dessen analytische Texte, jene eben
vom "Aufsteigen zum Konkreten". Hier
billigte er Hegel sogar Humor zu und sprach
vom "Witz der Widersprüchlichkeiten".
Hegels System aber war ihm zu "immerig",
zu "ewigkeitsträchtig", eine
zu "geist-volle Konstruktion", in
dem der "konkrete Mensch" abhanden
gekommen sei, der "sein heutiges Rindfleisch
ißt". Mit "ewigen Wahrheiten"
hatte Brecht überhaupt seine Probleme.
Zumal damals das offizielle DDR-Denken sich
mit dem ML (Marxismus-Leninismus, im Volksmund
"Marximum-Leninum") im Dauer-Besitz
der Wahrheit wähnte. Und von dieser "großen
historischen Wahrheit" die vielen kleinen
Wahrheiten des Alltags ableitete. Auf diese
Weise hatte alles, was die Führung auch
immer beschloß, den Rang, "wahr"
zu sein. Gleich, ob man eine eigene DDR-Flugzeug-Industrie
aufbaute, obwohl die DDR gar keine eigenen Flugzeuge
brauchte; oder ob man Ernst Barlach der "spätbürgerlichen
Dekadenz" bezichtigte und ablehnte, nur
weil einige "führende Genossen"
ihn nicht verstanden; oder ob man produktive
"halbstaatliche Betriebe" dadurch
unproduktiv machte, indem man sie "ganz"
verstaatlichte, nur weil die "reine Lehre",
nicht aber die Realität es so wollte. Alles
war "wahr", weil die "große
Sache", der Sozialismus "wahr"
war. Oder wie es Manfred Lötsch, ein hervorragender,
da kritischer DDR-Soziologe einmal sagte: "Bei
uns werden alle kleinen Sätze von den großen
Sätzen abgeleitet." So kam dem realen
Sozialismus in der DDR allmählich die Realität
der DDR abhanden. Man sah vor lauter Wald die
Bäume nicht mehr sah und erklärte
das auch noch zur Tugend.
DIE WAHRHEIT IST KONKRET impliziert neben der
Konkretheit einer Sache oder eines Vorganges
aber auch den Gesichtspunkt der Veränderbarkeit,
also seine Dialektik. Ist etwas "konkret",
entsteht es zu einer bestimmten Zeit und vergeht
mit ihr. Es ist, wie Brecht es nannte, nichts
"Immeriges". Alles, was auf der Bühne
gezeigt wird, sollte nichts "Immeriges"
sein, also den Schein erwecken, es gelte für
ewig. Es sollte seine Entstehung verraten und
damit seine Vergänglichkeit. Denn nur so
wird es vom Publikum als veränderbar angesehen.
Brecht nannte das "historisieren".
"Historisieren" ist ein Schlüssel
nicht nur seines Theaters, auch seines Denkens.
Besonders Vorgänge der Gegenwart verlieren
durch alltägliche Vertrautheit und Gewöhnung
scheinbar den Charakter des "Historischen",
also der Vergänglichkeit. "Das lange
nicht Geänderte scheint unveränderbar"
(Brecht) Es wird "Immeriges", das
immer bleibt, wie es ist. Historisieren durchbricht
die "feste" Vorstellung, der Stillstand,
die ewige Gegenwart. Alles wird zugehörig
einer bestimmten Zeit gezeigt und also als vergänglich
mit dieser Zeit. Das ist nichts anderes als
die konkrete Umsetzung der Forderung, die Welt
als veränderbar zu zeigen. Oder wie es
Erich Fried einmal sehr schön schrieb:
"Wer will, daß die Welt bleibt, wie
sie ist, will, daß sie nicht bleibt."
"Historisieren" heißt aber nicht,
wie man gern unterstellt, auf dem Theater genauste
historische Details zu zeigen, sondern Details
historisch zu zeigen. Das heißt, als Entstandenes
und so Vergängliches. Gerade bei Kostümen
ging Brecht nicht davon aus, wie sie zu einer
Zeit wirklich ausgesehen haben, sondern wie
sie hätte aussehen können. Hier war
Phantasie gefragt, der Absicht der Verfremdung
(also Entdeckung) förderliche.
Gerade in der Frage des Historisierens ist heute
bei Theaterleuten ein Rückfall auch da
zu beobachten, wo man sich "links"
und "system-kritisch" gibt. Es ist
fast zum Ritual geworden, historische Stücke
- und nicht nur im Kostüm - aus ihrem historischen
Feld zu reißen, angeblich, um sie zu aktualisieren.
So baute ein Regisseur in Ibsens "Nora"
einen Mord ein, weil nach seiner Meinung ein
"nichtbeglichener Schuldschein" heute
nicht mehr ausreicht, eine Familientragödie
auszulösen. Diese Enthistorisierung entzieht
dem Zuschauer nicht nur jeden Sinn für
Geschichte, sie führt zu "historischer
Arroganz". Man mißt Geschichtliches
nur mit eigenen heutigen Wertvorstellungen.
Fehlt aber der Sinn für Geschichtliches,
dehnt sich die Gegenwart in alle Ewigkeit aus.
Es kommt zum Stillstand. Das Stück - künstlich
in heutige Aktualitäten gezerrt - verliert
nicht nur seine Poesie, zum Beispiel, daß
zu Zeiten winzige Ursachen zu riesigen Katastrophen
auslösen können, es verliert auch
seine Aktualität. Der Zuschauer kann nicht
die historischen, also ihm fremden Ereignisse
auf die Verhältnisse seiner eigenen Zeit
umlegen Es fehlt jener Anreiz dazu, weil sie
von vornherein "zeitlos" gleichgesetzt
werden.
Besonders bei Stücken über die Gegenwart
führt Enthistorisieren zur direkten Interesselosigkeit.
Interesselosigkeit ist nur ein anderer Ausdruck
für Langeweile. Selbst da, wo Ereignisse,
um sie angeblich zu kritisieren, mit unerhörter
Brutalität und Radikalität gezeigt
werden, werden sie in Wirklichkeit verharmlost.
Sie werden "Negativ-Events", gültig
für alle Zeiten. Der Zuschauer erschrickt
zwar, aber es ist bloßes Zurückschrecken.
Eben "shocking". Unstimmigkeiten einer
konkreten Zeit erscheinen so als Dauerkrisen.
Was für bestimmte Verhältnisse gilt,
wird zur Eigenschaft der menschlichen Gesellschaft,
nach deren konkrete Ursachen nicht mehr gefragt
wird. Man hält zwar den Atem an, aber die
Welt bleibt stehen. Sie wird "alternativlos".
Fehlt aber die Veränderungsmöglichkeit,
ist selbst die brutalste und radikalste Kritik
letzten Endes ein Abfinden mit der Welt, wie
sie ist. Und damit Anpassung an die Misere auch
da, wo man sie beklagt. Die spießige Schicksalsergebenheit
des bürgerlichen Uralt-Theaters ergreift
unmerklich Besitz von der Avantgarde. Dabei
behauptet man, konsequenter zu sein als Marx,
"der nur die Entfremdung und Selbsttäuschung
des Menschen analysierte, aber nicht den Mut
hatte, sie als unüberwindliche Begleiterscheinung
menschlicher Vergesellschaftung zu akzeptieren",
sagt Jacques Derrida.
"Wahrheiten", die man hier "brutalstmöglich"
zeigt, entziehen sich letzten Endes der Kritik,
sie bekommen Ewigkeitswert. "Alternativlosigkeit"
wird so auch bei "Linken" unmerklich
zur Glaubenssache. Man bedauert sie und findet
sich bedauernd damit ab.
Für Brecht hingegen war nur das wahr, was
sich jeden Tag als wahr oder eben unwahr erweist.
Nicht nur im Denken, sondern in dem, was man
täglich tut. Das meinte er, wenn er sich
über sein Bett den Spruch hing DIE WAHRHEIT
IST KONKRET. Es ist ein radikales Konzept einer
"Philosophie der Praxis".
Brecht hat diese Philosophie ja täglich
praktiziert. In der Theaterpraxis ebenso
wie im täglichen Leben des Staates DDR.
Dort machte er mit seinen Inszenierungen Welttheater,
welches das Denken vieler Menschen in vielem
veränderte - und er machte praktische Vorschläge
zur Veränderung zum Beispiel der Lehrpläne
an den Grundschulen der DDR. Er brachte er mit
seinen Barlach-Thesen eine falsche Kulturpolitik
der Parteiführung zu Fall - und er half
derselben Parteiführung, die Losungen für
den IV. Parteitag besser zu formulieren.
Z: War Brecht unfehlbar?
Wie alle großen Philosophen
konnte Brecht sich hinreißend irren. Er
hat schreckliche Sachen über O'Casey gesagt.
Zum Beispiel, daß dieser "ein katholischer
Nihilist" sei. Allerdings änderte
er seine Meinung, als er O'Casey wirklich las.
Heinrich von Kleist war für ihn "ein
preußischer Junker, der im Zerbrochenen
Krug' das Bürgertum reaktionär von
rechts kritisiert", bis er Kleist selbst
inszenierte und von uns Assistenten sofort schriftliche
Analysen der "gegenüber der Weimarer
Klassik unglaublich progressiven gestischen
Verssprache Kleists" verlangte. "Faust"
war für ihn "eine unerträgliche
Bildungsrevue", bis er, den "Urfaust"
inszenierend, in "Goethinger" den
Gipfel des "Sturm und Drang" entdeckte,
was zu seiner Faust-Analyse führte, die
bis heute unübertroffen ist. Seine Irrtümer
waren weit anregender als die Wahrheiten manch
anderer Leute.
Z: Über den Philosophen
Brecht gibt es, bis auf die Schrift von Haug
"Philosophieren mit Brecht und Gramsci",
fast keine Literatur. Ist das Zufall? Oder nicht
auch ein wenig die Schuld von Brecht selbst,
der ja eben bestritt, ein "philosophisches
System" oder überhaupt ein "System"
begründet zu haben?
W: Das Erstaunliche bei Brecht
ist für mich immer wieder, daß er
kein philosophisches System hinterlassen hat,
aber eben doch eine systematische Philosophie.
Man muß sie sich allerdings - und das
ist eigentlich ganz im Sinn seines "selbsttätigen
Zuschauers" - selbst zusammensuchen. Sie
ist in der praktischen Theaterarbeit ebenso
zu finden wie in seinen theoretischen Schriften.
Sie ist an seiner Meinung zu den jeweils aktuellen
Ereignissen ablesbar wie an seinem Verhalten
in Situationen, an seiner Kritik wie an seinen
Vorschlägen zu Politik. Sie ist in seinen
Gedichten zu finden, sogar in den Anekdoten
über ihn.
Es ist ein Verdienst von Wolfgang Fritz Haug,
Brecht als Philosoph neben Gramsci gestellt
zu haben. Den Philosophen Brecht - in seiner
Philosophie der Praxis wie in seiner praktizierten
Philosophie - zu entdecken, wäre zu seinem
50 Todestag ein wesentlich seriöseres Thema,
als den Spekulationen über sein Liebesleben,
seine Verdauung oder seine Paßangelegenheiten
noch weitere hinzuzufügen.
Es ist immer gut, heute von dem "ganzen"
Brecht zu reden. Denn es scheint sein Schicksal,
ständig wie die berühmte Jungfrau
zersägt zu werden, und zwar mit immer neuen,
noch nie dagewesenen Gründen. Zu guter
Letzt aber immer aus einem Grund: Ihn anzupassen
an die jeweils herrschende Meinung. Und die
ist, wie ein anderer kluger Mann einmal sagte,
immer die Meinung der Herrschenden.
Die Genesis von Brechts fast biblischer "Zerstücklung"
liest sich wie eine humorige Kalendergeschichte
von ihm selbst.
Z: Man "zerstückelte"
ihn nicht nur, man wollte ja auch den "ganzen"
Brecht abschaffen. Außenminister Brentano
verglich ihn zum Beispiel aus diesem Grund mit
Horst Wessel.
W: McCarthy war da 1945 in den
USA noch so anständig, Brecht einen Kommunisten
zu nennen. Und es war nur konsequent, dem Kommunisten
Brecht, als er bei seiner Rückkehr nach
Ostberlin fahren wollte, bei Strafe zu verbieten,
den Weg durch die amerikanische Besatzungszone
zu nehmen, so daß er den Umweg über
Wien und Prag nehmen mußte. Aber als man
dann aber merkte, daß auch der "Westen"
nicht ganz ohne Brecht auskommen wird, sprang
die Literaturwissenschaft ein. Sie zerlegte
Brecht in den "frühen Lyriker"
(den man pries) und "späten Dramatiker"
(den man ablehnte). Reich-Reinicki ist bis heute
dabei geblieben. Als dann auch die Stücke
sich auf dem Theater nicht mehr vermeiden ließen,
kam der erlösende "Ritterschlag":
man zerteilte Brecht in den "Dichter "
und den "Politiker", und hackte den
kommunistischen Politiker einfach ab. Nun konnte
ein "deutscher Dichter" gefahrenlos
in die westliche Wertegemeinschaft aufgenommen
werden. Aufkommenden Widerständen dagegen,
wie zum Beispiel von Harry Buckwitz, Intendant
der Theaters in Frankfurt am Main, der trotz
des Boykotts Stücke des "unzerlegten"
Brecht spielte, begegnete man in der Presse,
indem man Buckwitz jegliche künstlerischen
Fähigkeiten absprach. Und als Buckwitz
1960 dann auch noch das kommunistische Berliner
Ensemble mit dem "Aufhaltsamen Aufstieg
des Arturo Ui" zum Gastspiel nach Frankfurt
einlud, rettete man das Abendland, indem man
an den Litfaß-Säulen Plakate klebte
mit der warnenden Aufschrift DIE KOSAKEN KOMMEN.
Und beherzte Jung-Unionisten bildeten um das
Frankfurter Schauspielhaus einen geschlossenen
Kordon, um das Publikum - leider vergeblich
- am Betreten zu hindern.
Brecht ist in diesem Jahr fünfzig Jahre
tot. Und natürlich kommt nach so langer
Zeit in der westlichen Wertegemeinschaft der
Wunsch auf, nicht nur den zerstückelten
halben Brecht sein eigen zu nennen, sondern
den "ganzen". Auch die Bild-Zeitung
wünscht sich das, wenn sie titelt UNSER
BRECHT.
Man erklärt einfach, daß es einen
"Politiker "Brecht nie gegeben habe
und daß er etwas mit dem Kommunismus zu
tun gehabt hätte, ist eine reine Erfindung
seiner Schüler.
Diese Frohe Botschaft (lat. Evangelium) erreicht
uns aus Karlsruhe. Sie verkündet, EIN GANZ
NEUER BRECHT sei entdeckt worden. Jan Knopf,
einem deutschen Professor, der dafür an
der Universität ein ganzes Institut unterhält,
ist es gelungen, Bertolt Brecht, den er im Internet
programmatisch DEN GOETHE DES 21. JAHRHUNDERTS
nennt, von dem Verdacht zu säubern, Marxist
gewesen zu sein. Er - der Professor - habe in
Brechts Bibliothek im Brecht-Haus zu Berlin
nachgeschaut und kann nun beweisen, daß
es nur seine Biografen oder ideologischen Ausdeuter
waren, die behaupten, Brecht habe Marx gelesen.
"Davon kann jedoch keine Rede sein, er
hat Marx nie richtig gelesen. Die Lektüre
des KAPITAL ist lediglich als sporadische Urlaubslektüre
überliefert", er habe bei dem "Büchernarren
Brecht" nur eine "weitgehend ungebraucht
wirkende KAPITAL-Ausgabe von 1932 gefunden,
obwohl Brechts angebliche Marx-Studien jedoch
um Jahre zuvor datiert sind". Daß
sich Brecht selbst als Marxismus-Kenner darstellt,
ist für den Professor "eine typisch
Brechtsche Selbstinszenierung, die im konkreten
Fall einem speziellen Auftritt in Moskau geschuldet
ist". Seine Konklusion: "Wir wollen
mit unserer Arbeit eine Hilfestellung leisten,
den >neuen Brecht< zu entdecken, der bisher
als kommunistischer Dichter diskreditiert wurde".
Hier liegt ein klassischer Fall eines TUIs vor.
TUIs (Umdrehung des "Intellektuellen"
in "Telekt-Uell-In") sind nach Brecht
Leute, die gegen Bezahlung ihren Verstand vermieten,
um Sätze zu beweisen wie "Der Regen
fließt von unten nach oben" oder
"Bei Pflanzen kommt die Frucht vor der
Blüte."
Denn natürlich weiß unser Professor
aus Karlsruhe, daß ein Satz "Brecht
hat Marx nie gelesen." gut paßt zu
einem Satz wie "Der Regen fließt
von unten nach oben.", aber nicht zu Brecht.
"Denn", das schreibt derselbe Professor
wenige Jahre zuvor (als es "schick"
war, links zu sein)"Brecht hat seine >Große
Methode< ganz von der marxistischen Dialektik
abgeleitet, und hier vor allem von Lenin".
Damals war der Professor auch Mitherausgeber
von Büchern wie die "Große Kommentierte
Frankfurter und Berliner Brecht-Ausgabe".
Und da kennt er natürlich, was er im Band
XXI. Seite 256 herausgegeben hat: "Als
ich das Kapital von Marx las, verstand ich meine
Stücke." (Brecht 1928).
Nachdem die politische Analphabetisierung Brechts
durch den Karlsruher Professor eine ganze Zeit
an der Brecht-Börse die höchste Notierung
der Verwurstung war, wird sie nun von einer
neuen Kurssteigerung überboten. In einer
Rezension der Aufführung "Im Dickicht
der Städte" an der Berliner Volksbühne
im NEUEN DEUTSCHLAND - SOZIALISTISCHEN TAGESZEITUNG
vom 2. Februar 2006 spaltet der Kritiker Hans
Dieter Schütt Brecht nicht mehr in den
"Lyriker" und den "Dramatiker",
oder den "Dichter" und den "Politiker",
sondern in den "Benutzbaren" und den
"Wenig-Benutzbaren!": "Auch Brecht
- mit solcher Art Theater - in seiner bösesten
Existenzform, aasig, heiter sein übersteigertes
Selbstgefühl. Ausgeliefert noch nicht der
Weisheit der Klasse und der schönen Hoffnung,
Erkenntnis und Bewußtsein könnte
den Menschen retten. Just dies Fehl an Geschichtslektion
hält die frühen Werke so sportiv schwitzend,
so genial undurchdringlich - und so wenig b
e n u t z b a r."
Bemerkenswert ist hier nicht nur der neuen Kaiserschnitt,
den der Kritiker an Brecht vornimmt, sondern
auch die Sprache. Sie ist wahrscheinlich seit
Lessing in der Sparte der Theaterkritiker ein
Novum. Der Literaturwissenschaftler Prof. Dr.
Werner Mittenzwei definiert sie als "angeheiterte
Lyrik".
Z: Was auffällt, ist, daß
in dieser ganzen Diskussion, die auf die politische
Verfemung folgte, zwei Argumente kamen. Einmal
die Trennung des Politikers vom Dichter, aber
dann auch oftmals das Argument, dadurch, daß
die Stücke so theorieüberladen wären,
wären sie langweilig oder Zeigefingertheater.
W: Sie werden lachen, dem stimme
ich zu. Brecht-Stücke können furchtbar
langweilig sein, mehr als jede anderen. In England
zum Beispiel galt Brecht in den 60er Jahren
als THE GREAT BORER, der große Langeweiler.
Auch den Grund glaubte man zu wissen: zu viel
Theorie, zu wenig Theater. Und so wurde in England
bei Brecht-Stücken die Theorie immer mehr
von der Bühne verbannt mit dem Erfolg,
daß die Aufführungen immer langweiliger
wurden. Das änderte sich erst, als 1966
das Berliner Ensemble im Londoner Old Vic gastierte,
und Kenneth Tynan, der legendäre Kritiker
des "Observer", schrieb: "Nicht
zuviel Theorie hat das Publikum gelangweilt,
sondern zu wenig".
Denn Brecht, immer schon an die Nachwelt denkend,
hat offenbar in seine Stücke eine geheime
Sicherung eingebaut: Ohne die Spielweise Brechts
(also Theorie) verweigern diese Stücke
einfach den Dienst. Sie werden langweiliger
als jedes andere Stück, denn bei denen
kann man sich wenigstens auf die äußere
Spannung verlassen. "Es scheint",
so schrieb Kenneth Tynan weiter, "erst
Brechts Theorie läßt seine Stücke
blühen, erst eine epische Spielweise macht
sie dramatisch". Zur größten
Überraschung feierte gerade das bis dahin
in England als langweilig verschrieene Stück"
MUTTER COURAGE UND IHRE KINDER mit Helene Weigel
in der Titelrolle in London Triumphe.
Man hatte nämlich übersehen, daß
die Theorie Brechts nicht mehr Theorie
ins Theater bringt, sondern mehr Theater. Sie
wurde von Brecht einst formuliert, weil er sich
im Theater so langweilte, wie er mir einmal
sagte. Er wollte die mageren Ersatzbefriedigungen
des heruntergekommenen bürgerlichen Theaters,
emotional wie intellektuell wieder durch echte
Befriedigungen ersetzen. Zu diesen Befriedigungen
zählt er das Vergnügen, die Welt durchschaubar
zu machen; den Genuß, seine eigene Lage
zu erkennen und die Lust, sie zu verändern.
Kurz: "Die Freude und Leidenschaft der
befreienden Entdeckung, daß das Schicksal
des Menschen der Mensch ist."
Es ist fortschreitende Geschmacksverirrung,
Brecht zu unterstellen, er wolle das Theater
abschaffen und Kunst durch Wissenschaft ersetzen.
Denn zu einem Mann wie Brecht paßt es
doch eher (und man kann es ja schließlich
bei ihm nachlesen), daß er die großen
Gegenstände unserer Zeit wieder auf das
Theater bringen wollte, um wieder richtiges
Theater zu machen. Eigentlich tat Brecht nichts
anderes als auch Shakespeare auch, als der die
modernsten Wissenschaften seiner Zeit, zum Beispiel
die erste Übersetzung des Plutarch ins
Englische, sofort benutzte, ein künstlerisch
und politisch universales Stück wie die
"Tragödie des Coriolan" zu schreiben,
beschämend die erbärmlichen Zwerggestalten
des damaligen Hofes und Hoftheaters.
Es gibt einen Text von Brecht aus dem Jahr 1948,
geschrieben unmittelbar nach seiner Rückkehr
in das materiell wie geistig verwüstete
Deutschland. Damals erwartete man von Brecht,
dem "Erfinder" der Lehrstücke,
strenges Lehrtheater zur Umerziehung der vom
Faschismus verführten Menschen. Brecht
aber antwortet: "Widerrufen wir also, wohl
zum allgemeinen Bedauern, unsere Absicht, aus
dem Reich des Wohlgefälligen zu emigrieren,
und bekunden wir, zu noch allgemeinerem Bedauern,
nunmehr die Absicht, uns in diesem Reich niederzulassen.
Behandeln wir das Theater als eine Stätte
der Unterhaltung, wie es sich in einer Ästhetik
gehört, und untersuchen wir, welche Art
Unterhaltung uns zusagt."
1955, beschäftigt, marxistisches Denken
unter die Leute zu bringen, die in der DDR den
Versuch unternahmen, eine Welt ohne Kapitalismus
zu errichten, kam er zum Beispiel zusammen mit
dem Regisseur Erich Engel sogar auf den Gedanken,
das erste Kapitel des KAPITAL von Marx "Über
den Doppelcharakter der Ware", den wohl
abstraktesten Teil des ganzen Buches, "zur
Unterhaltung" auf die Bühne zu bringen.
Es sollte ein Clownsspiel werden über die
"absurde Verdrehung" der Formel W-G-W
in G-W-G'. Der unnütze Dumme August (Tauschwert)
sollte dem nützlichen Weißen Clown
(Gebrauchswert) ständig auflauern, um ihn
am Ende ganz zu verschlucken und sich selbst
zum lieben Gott der Wirtschaft zu ernennen,
der neue Gebote erläßt. Darunter
das erste Gebot: Du sollst nur das produzieren,
was du selbst überhaupt nicht brauchst,
und zwar für den, den du überhaupt
nicht kennst, und von dem du nicht einmal weißt,
ob es ihn überhaupt gibt.
Z: Gerade wenn man Brechts Theorie
als "Philosophie der Praxis" oder
"praktizierte Philosophie" begreift,
stellt sich die Frage, ob es in der Bundesrepublik
ein Theater gibt, daß diese Tradition
aufnimmt.
W: Ein Theater sicher nicht, dafür
Leute, die an verschiedenen Orten so etwas versuchen.
Aber auch da wechselnd von Aufführung zu
Aufführung. Ich sah an der Berliner Schaubühne
Ibsens "Nora" als ein Rückfall
weit hinter Ibsen zurück in die spießige
Zwanghaftigkeit bürgerlicher Schicksalsgläubigkeit
; und ich sah vom gleichen Regisseur "Hedda
Gabler" als grausig-vergnügliche Gesellschafts-Obduktion,
auch das heutige Bürgertums betreffend
als jene Schlange, die sich vom Schwanz her
selbst auffrißt.
In Cottbus inszenierte Alejandro Quintana, chilenischer
Emigrant, dann Schüler bei mir am BE, die
"Mutter Courage". Vor dieser Aufführung
wurde ich gewarnt, sie sei "ganz anders".
Sie war tatsächlich ganz anders, aber darum
nach meiner Meinung um so näher bei Brecht.
Man meinte, wenn der Vorhang aufgeht, Bilder
aus dem heutigen Bagdad zu sehen: Kampfmaschinen
mit umgehängten MPis beschweren sich, daß
die Leute um sie herum so voll Bosheit seien,
obwohl sie doch als Befreier gekommen sind.
Die erste Überraschung des Abends: Quintana
hat diese Inszenierung lange vor Bushs Überfall
auf den Irak gemacht. Sie wurde eine Voraussage.
Die zweite Überraschung: die heutigen Kostüme
verführten den Regisseur nicht zu heutiger
Flachheit. Er spielt die archetypischen Kriegssituationen
des Stücks mit Größe, Schärfe
und Humor aus, so daß die Geschichte um
die Courage und ihre Kinder nicht "cool"
daherkommt, im Gegenteil, die modernen Kostüme
machen die Situationen noch archetypischer und
unbegreiflicher. Die dritte Überraschung:
Quintana leugnet nicht seine Herkunft. Beweglichkeit
und Farbigkeit der Figuren, die mehr aus Chile
kommen als aus dem Dreißigjährigen
Krieg, machen das Ende um so erschütternder.
Es kommen nicht Menschen um, die vom Tod gezeichnet
sind, sondern Menschen von großer Lebenslust.
Gegen den Krieg, inzwischen wieder "Fortführung
der Politik mit anderen Mitteln", wird
hier ein erstaunliches Potential an Erkenntnis
und Humor und Haß und Mut geweckt.
Z: Und das Berliner Ensemble?
Das sich ja gern wieder mit dem traditionellen
Kürzel "BE" bezeichnet?
W: Ekkehard Schall nannte das
kurz vor seinem Tod einen "Etikettenschwindel".
Und Peter Palitzsch wollte nach dem Besuch der
Peymann-Inszenierung "Die Mutter"
dem "BE" untersagen, den auf dem Dach
des Schiffbauerdamm-Theaters sich drehenden
Berliner-Ensemble-Kreis, dessen Erfinder er
ist, weiter zu verwenden (was allerdings scheiterte,
da er versäumt hat, ihn urheberrechtlich
schützen zu lassen). Ich bin da weniger
rigoros. Wenn man heute ein Publikum, das immerhin
die Theaterkarten noch bezahlen kann, mit Brecht
ins Theater lockt, beweist das den über
Jahrzehnte erfahrenen Theater-Direktor, der
weiß, wie man Quoten macht. Dazu muß
man Brecht weder besonders kennen noch können.
1964 kritisierte mich Claus Peymann, damals
ein werdender 68er, anläßlich einer
Diskussion während der EXPERIMENTA in Frankfurt
am Main, daß unsere BE-Aufführung
des "Messingkauf" von Brecht, die
wir dort zeigten, "nicht marxistisch"
sei, da sie zu unterhaltsam war, was bei ihm
in dem in dem Ausruf gipfelte: "Nur Marxisten
sollte es erlaubt sein, Brecht zu inszenieren".
2001, inzwischen Direktor des Berliner Ensemble,
kam Peymann einer heutigen Brecht-Auffassung
schon näher, wenn er auf einer Pressekonferenz
sagte, "Brecht ist heute abgenudelt wie
eine alte Operette und ich denke nicht daran,
Denkmalspflege zu betreiben". Tatsächlich
war zu dieser Zeit mit Brecht noch keine Quote
zu gewinnen. Das kam später, als das besserverdienende
Stammpublikum des neuen BE plötzlich Brecht
als Event entdeckte und sich gern anhörte,
wenn man ihm in der "Mutter" von der
Bühne herab zusingt: "Du mußt
die Führung übernehmen". Denn
das haben sie ja auch im "Osten" bereits
getan. Es wäre für einen erfahrenen
Theaterdirektor wie Claus Peymann geradezu sträflich,
unter diesen Umständen nicht weitere Brecht-Events
auf die Bühne zu bringen.
Nur, was bei der "Mutter" noch funktionierte,
nämlich Brecht ohne Brecht zu spielen,
da in der "Mutter" allein schon Reizworte
wie "Lob des Kommunismus", "Lob
des Revolutionärs" oder "Lob
der Dialektik" ausreichen, bei diesem Publikum
für genügend exotische Aufregung sorgen,
entfiel das bei der "Mutter Courage".
Hier war man auf das Spielen von Brecht angewiesen.
Da führt ein Herangehen, wie es die Hauptdarstellerin
treffend formulierte: "Nicht die Theorie
suchen, sondern auf die dichterische Kraft setzen",
eben zu jener gefürchteten Langeweile,
verschärft noch, da man so auch jeden Humor
Brechts verliert.
Aber auch das ist für die Quoten eines
erfahrenen Theaterdirektor wie Claus Peymann
keine Hinderungsgrund, da heute - zumindest
in Berlin - der Endjubel nach jeder Aufführung
bereits mit der Theaterkarte käuflich erworben
wird, deren inzwischen um das Zwanzigfache gestiegener
Wert bestimmt auch den Wert einer Inszenierung.
Ähnlich erging es kurz zuvor dem Deutschen
Theater in Berlin, als man auch dort erfahren
mußte, daß Brecht ohne Brecht die
Quadratur des Kreises ist. Peter Zadek, immerhin
ein sonst beachtlicher Regisseur, hatte die
"Courage" von der Last der gestischen
widersprüchlichen Spielweise befreit und
ließ mit der flüssigen Alltäglichkeit
einer Fernseh-Vorabend-Serie spielen. Auch ihn
ließ ihn Brecht kläglich im Stich.
Es scheint sich Brechts Warnung eben doch zu
bewahrheiten: "Ohne Ansichten und Absichten
kann man keine Abbildungen machen. Ohne Wissen
kann man nichts zeigen; wie soll man da wissen,
was wissenswert ist? Will der Schauspieler nicht
Papagei oder Affe sein, muß er sich das
Wissen der Zeit über das menschliche Zusammenleben
aneignen, indem er die Kämpfe der Klassen
mitkämpft
Über den kämpfenden
Klassen kann niemand stehen, da niemand über
den Menschen stehen kann."
Z: Gibt es gegenwärtig ein
Theater, das - um es so zu formulieren - am
Anspruch festhält, die Welt zu verändern?
W: Die These, Brecht wolle mit
Theater die Welt verändern, ist genau genommen
eine Erfindung der 68er. Und ihre Resignation,
die folgte, als das nicht gelang, ist nicht
die Folge der "Wirkungslosigkeit"
des Theaters, sondern die ihrer eigenen falschen
Erwartung. Brecht hat niemals behauptet, Theater
allein könne die Welt verändern. Theater
kann Bewegungen, die in der Gesellschaft vorhanden
sind, fördern, und es kann sie bremsen,
es kann sie niemals ersetzen. Es gibt allerdings
Situationen, in denen Theater ganz unerwartet
direkte gesellschaftliche Bewegungen auslöst,
in denen es der Tropfen ist, der das Faß
zum Überlaufen bringt. So geschehen mit
der Uraufführung von Beaumarchais "Hochzeit
des Figaro" zur Zeit der Französischen
Revolution, als eine kleine Liebesgeschichte
zwischen Dienstboten einen Sturm auf die Bastille
auslöste. In unseren Zeiten kann das Theater
den Emanzipationsprozeß, der dringend
notwendig ist, am besten befördern, wenn
es seinem Publikum die Unerträglichkeit
heutiger Verhältnisse zu Bewußtsein
bringt. Zum Beispiel, wenn es Unzufriedenheit
stiftet, wo Zufriedenheit herrscht, also Täuschung.
Hier braucht es "Ent-Täuschung".
Für Brecht war in "finsteren Zeiten"
es nicht das Unrecht, das ihn entsetzte, denn
es ist Teil dieser Zeiten. Brecht entsetzte,
"wenn da Unrecht war und keine Empörung".
Z: Wie kann heute und hier ein
Theater progressive Bewegungen befördern?
Jedenfalls nicht durch weiteres
Verdüstern dessen, was schon düster
ist. Schwarzes Ausmalen der eh schon schwarzen
Wirklichkeit, in der wir uns befinden, schafft
keine Abhilfe. Weder die Fähigkeit dazu,
noch den Mut, noch die Lust . Es läßt
in der Dunkelheit, die da herrscht, nicht einmal
das Elend in seinem wirklichen Ausmaß
erkennen. Besser scheint mir da schon respektloses
"Anschwärzen" der nicht tragbaren
Verhältnisse, also ihre Überführung
als unzumutbar für zivilisierte Menschen.
Der düstere Sozial- Naturalismus, der öde
beschreibt, was da an Verödung herrscht,
bestärkt in seiner Trostlosigkeit den Glauben
an hoffnungslose Alternativlosigkeit, von der
die Politik heute so gern redet. ALTERNATIVLOSIGKEIT
aber ist die Zauberformel, mit der das Kapital
sein Überleben zu sichern versucht. Diese
Formel ist heute wahrscheinlich eine der gefährlichsten.
Denn die Behauptung, das jetzige System sei
alternativlos, will nur von der wirklich vorhandenen
Alternative zwischen SOZIALISMUS ODER BARBAREI
zugunsten der letztere ablenken.
Wenn ich Brecht richtig verstanden habe, schafft
gerade bei Darstellung des Trübsinns nicht
trübe Klage Erleichterung, sondern - im
wahrsten Sinn - überwältigender Humor.
Zum Beispiel, indem man zur Überraschung
des Publikums die trübsinnige Welt von
heute - wie es die Politiker in allen Medien
ja fortgesetzt tun - zur "besten aller
möglichen Welten" erklärt. Und
das kann die umwerfende Komödie. Brecht
hielt die Komödie für die heute am
meisten angemessene Form des Theaters, ernsthaft
genug, um wirkungsvoll in die Geschicke der
Gesellschaft einzugreifen. Man braucht heute
weniger Gespenster, die in Europa umgehen, sondern
mehr Trojanischer Pferde. Sie verunsichern,
lange unbemerkt, dann aber um so heftiger die
drohenden "Wälle von Troja",
bis sie unter Gelächter einstürzen.
Bei Brecht lese ich: "Im allgemeinen gilt
wohl der Satz, daß die Tragödie die
Leiden der Menschen häufiger auf die leichte
Schulter nimmt als die Komödie."
Z: Wie zum Beispiel?
W: Als Chaplin 1938/39 den "Großen
Diktator" drehte, brach während der
Dreharbeiten der zweite Weltkrieg aus. Heute
weiß man, daß Kollegen, sogar Roosevelt
persönlich, Chaplin aufforderten, das Projekt
aufzugeben. Die einen waren dagegen, über
eine grausige Figur wie Adolf Hitler, der im
Film Alois Hinkel heißt, zu lachen, die
anderen fürchteten, Hitler könnte
gereizt werden, seine Grausamkeiten in Konzentrationslagern
und eroberten Ländern noch zu verschärfen,
wenn man sich über ihn lustig macht. Die
Filmfirma sperrte Chaplin das Geld. Chaplin
verwahrte sich dagegen, sich über Hitler
"lustig" zu machen, er wolle ihn "der
Lächerlichkeit preiszugeben". In Zeiten,
wo ganz Europa vor Hitler zitterte, weil man
ihn für unbesiegbar hielt, wäre es
nach Chaplins Meinung falsch, ihn auch noch
als "furchtbare Größe"
darzustellen. Das würde die Furcht noch
vergrößern, nicht den Mut, ihn zu
bekämpfen. Chaplin drehte auf eigene Kosten
weiter. In seinen Notizen findet sich diese
Bemerkung:"Das Tragische ist eine Haltung
des sich Abfindens, das Komische die Haltung
des sich Wehrens."
Chaplin behielt recht. Der "Grosse Diktator"
gilt heute als eine der wirksamsten Widerlegung
des Faschismus. Hitler soll sich übrigens
den Film dreimal angesehen haben, weil er, heißt
es, in dieser Lächerlichkeit die größte
Gefährdung seiner "Unbesiegbarkeit"
sah. Eine ähnliche Wirkung hatte Brechts
"Aufhaltsamer Aufstieg des Arturo Ui"
in der Inszenierung von Wekwerth/Palitzsch.
Stück und Inszenierung erhielten 1961 den
großen Preis des Theaters der Nationen
und den Pariser Kritikerpreis, weil man befand,
daß faschistische Bedrohung selten in
solcher Schärfe bewußt wurde wie
durch diese clowneske Travestie. Diese Inszenierung,
die auf Gastspielen in fast allen europäischen
Hauptstädten gezeigt wurde, erreichte in
Berlin die Rekord- Zahl von 735 Aufführungen.
Brecht plante 1956 am BE "Warten auf Godot"
zu inszenieren. Er hielt das Stück von
Samuel Beckett für eines der großen
Stücke der Weltliteratur. Durch Brechts
Tod kam es nicht mehr dazu. Brecht wollte allein
durch die Spielweise den totalen Stillstand,
den dieses Stück so konsequent zeigt und
an dem sich das bürgerliche Theater in
"flachem Tiefsinn" so weidet, nicht
als absurden Zustand der Welt an sich beklagen,
sondern als "tollen Erfolg des absurden
Kapitalismus" lobpreisen. Estragon und
Wladimir, die beiden Clochards, sollten bei
ihm Arbeitslose sein, die nicht auf Arbeit warten,
sondern auf Godot, was die Sache noch absurder,
damit für das Publikum komischer macht.
Und Lachen, das meint jedenfalls Dario Fo, öffnet
ja nicht nur den Mund, sondern auch das Gehirn.
Eine in diesem Sinn hinreißend ernste
wie hinreißend komische Inszenierung war
für mich Christoph Marthalers DIE STUNDE
NULL oder GEDENKTRAINING FÜR FÜHRUNGSKRÄFTE
1998 am Hamburger Schauspielhaus. Es ist das
"Hohe Lied der Nieten in Nadelstreifen".
Hier üben in der Stunde Null - 1945 - die
künftigen Eliten des sich wieder erholenden
Kapitalismus in einem "geschlossenen Lehrgang",
was sie als kommende Führungskräfte
am dringendsten benötigen: HÄNDESCHÜTTELN,
das sie unter Aufsicht einer Erzieherin an einem
Turnpferd üben, an dem eine Hand aus Leder
angebracht ist; WINKEN ZUM VOLK mit dem dazugehörigem
Spezial-Lächeln; ZERSCHNEIDEN VON BÄNDERN,
um Brücken einzuweihen; vor allem FREIE
REDE, mit der man viel redet, um nichts zu sagen.
Dazwischen Erfrischungen wie Tee, den man im
Stehen einnimmt und bei dem auf den kleinen
Finder geachtet wird, der von der Tasse abgespreizt
sein muß, weil Führungskräfte
Kultur haben müssen. Und Führungskräfte
müssen, um zu führen, sich als fühlende
(singende) Menschen mit Herz auf dem rechten
Fleck erweisen. Darum immer wieder Sprüche
und Gesänge, womit man Herz und Verstand
für jenen Patriotismus trainiert, den man
von anderen verlangt.
Z: Und was ist das Brechtsche an Marthaler?
W: Sicherlich wäre Marthaler
sehr überrascht, wenn man ihm sagte, er
"mache Brecht". Aber da ist seine
enorme Realitäts-Kenntnis, die auch im
Absurden bis ins Detail stimmt; sein Bemühen,
die Realität transparent zu machen, ohne
sie zu zertrümmern. Im Gegenteil, er baut
die Trümmer erst so richtig auf, daß
das Alberne fast wie eine Errungenschaft erscheint,
und erst das Lachen des Zuschauers es der Albernheit
überführt, ohne daß es auf der
Bühne albern zugeht. Man erkennt das, was
man bisher in Medien und Wirklichkeit für
normal hielt, als potentielle Verrücktheit
und jene würdigen Amtsträger, die
es in aller Öffentlichkeit mit tiefer Überzeugung
betreiben, um andere zu überzeugen, als
absolut Verrückte. Die "Verfremdung"
verrät hier ihren Ursprung in den uralten
Techniken großer Clowns.
Marthaler geht - jedenfalls in dieser Produktion
- von etwas aus, was Brecht die "Kunst
der Beobachtung" nennt. Die große
Ruhe, in der sich die "Übungen"
ständig wiederholen, verleiht ihnen den
Gestus der "Sitten und Gebräuche".
Auch Brecht zeigte Vorgänge gern als "Sitten
und Gebräuche", um sie nicht als Zufall,
sondern einem sozialen System zugehörig
zu zeigen. So werden nicht nur die einzelnen
Vorgänge kritisiert werden, sondern vor
allem das System, das sie hervorbringt. Das
"Gedenktraining für Führungskräfte"
ist eigentlich mehr eine Collage (Brecht würde
es "Gestarium" - Gestensammlung -
nennen) und kein Stück, aber durch die
Vielfalt der Mittel, kommend aus genauer Beobachtung,
wird hier das absurde Verhalten von Führungskräften,
das sich im Leben durch Gewöhnung der Kritik
entzieht , seiner ganzen Absurdität preisgegeben.
Hier blüht dieser Schwachsinn wie eine
große Errungenschaft dieser Gesellschaft.
Es ist politisch echte "immanente Kritik".
Und es erfüllt noch ein Kriterium Brechts:
es ist unglaublich unterhaltsam.
Z: Kommen wir noch einmal auf Brecht zurück. Wie würden Sie Brechts Ästhetik zusammenfassen?
W: Brechts Ästhetik oder
- wie er lieber sagte - seine Produktionsweisen
durchliefen verschiedene Phasen. In den 20-ziger
Jahren war sein "Episches Theater"
eine Provokation, denn Epik und Dramatik schlossen
sich nach Aristoteles aus. Das führte auch
schnell zu enormen Mißverständnissen.
Bis heute wird behauptet, Brecht wolle auf der
Bühne nur noch Epik statt Dramatik, also
Beschreibung statt Handlung. Er gestatte nur
epische Ruhe und keine dramatischen Leidenschaften.
Er wolle - das alte Lied! - Gefühl durch
Verstand ersetzen, Ästhetik durch Aufklärung.
"Episch" heißt zunächst
nichts anderes als "erzählend".
Brecht wollte dem Theater, das sich zu dieser
Zeit (wie heute wieder) endlos in Symbolik,
Ausdeutung, Stimmungen, Schocks, Räuschen,
Exzessen, Expressionen, vor allem "Regie-Einfällen"
ergeht, seine ursprüngliche Funktion zurückgeben:
Theater sollte wieder "Geschichten erzählen".
Aber nicht etwa, indem es Geschichten vorliest,
sondern indem es sie spielt. In diesem Sinne
spricht Brecht auch vom "erzählenden
Arrangement", von "erzählender
Geste", von "erzählender Musik",
von "erzählenden Requisiten".
Sie alle tragen dazu bei, mit allen Mitteln
der Bühne eine konkrete Geschichte dem
Zuschauer zu "erzählen". Der
Zuschauer soll nichts "Vorgekautes"
(wie Moral, Geschmäcker, Meinungen, Bedeutungen)
vorgesetzt bekommen, sondern er soll selbst
"essen". Die Vorgänge auf der
Bühne betrachtend, soll er "sich seinen
Reim darauf machen". Es geht also nicht
um Vermeidung oder Verminderung von Gefühlen,
sondern um das Erzeugen ganz neuer Gefühle,
nämlich, die der eigenen "Tätigkeit".
Dabei müssen die Gefühle des Zuschauers
nicht immer die Gefühle der Bühnen-Figuren
sein. Eigentlich geht es auch beim "Epischen
Theater" um nichts anderes, als den Zuschauer
zur Selbständigkeit zu aktivieren.
Ausgangspunkt war auch hier die Kritik der Identifikationsästhetik,
die Brecht "aristotelisches Theater"
nennt. Das "aristotelische Theater"
geht davon aus, daß das Publikum sich
durch "Furcht und Mitleiden" mit dem
Helden identifiziert und völlig in dessen
Schicksal "einfühlt", als wäre
es das eigene. So - gleichsam am Gängelband
- durchlebt es mit dem Helden alle Höhen
und Tiefen, um am Ende mit ihm "geläutert"
zu werden. Aristoteles nennt dies "Katharsis".
Brecht übersieht da ein wenig, daß
die "Reinigung von Frucht und Mitleiden",
die Katharsis, bei Aristoteles noch hauptsächlich
therapeutischen Zwecken diente.
Die Vorstellung, daß eine gute Tat auf
der Bühne direkt beim Zuschauer gute Taten
auslöst (nichts anders ist die Identifikationsästhetik),
ist bis heute eine beliebte Forderung aller
Herrschenden der Welt. Auch in der DDR erhoffte
man zum Beispiel, mangelnde Arbeitproduktivität
zu erhöhen, indem man auf der Bühne
Helden zeigt, die besser arbeiten und so den
Zuschauer veranlassen, am nächsten Morgen
an seinem Arbeitsplatz es den Helden gleich
zu tun und auch besser zu arbeiten.
Denis Diderot schrieb 1773 sein "Paradoxon
für den Schauspieler", in dem er bereits
feststellt, große Gefühle beim Zuschauer
entstehen nicht, indem er die großen Gefühle
der Schauspieler einfach nachahmt, sondern eigenen
Gefühle entwickelt, die ganz andere sein
können als die auf der Bühne. Denn
- so Diderot - wirklich große Gefühle
entstehen in "kritischer Distanz",
was für ihn nichts anderes heißt,
als durch den Gebrauch seines "eigenen
Kopfes und Herzens".
Auch Brechts Stück "Mutter Courage
und ihre Kinder" gewinnt seine politische
und ästhetische Wirkung erst
durch diesen Widerspruch. Mutter Courage, die
am Krieg der großen Herren mit verdienen
will, verdient nicht nur nichts, sie verliert
alles, aber sie lernt daraus nichts, im Gegenteil,
sie zieht weiter in den Krieg. Für Brecht
entsprach das nicht nur der historischen Wahrheit
- die Deutschen hatten am Ende des zweiten Weltkrieges
tatsächlich fast nichts gelernt - es ist
für das Theater auch die viel größere
Tragik : gerade die Unbelehrbarkeit der Courage
ist es, die Verstand und Gefühl der Zuschauer
so schockiert, daß sie vielleicht von
sich aus den dringenden Wunsch verspüren,
endlich zu lernen.
Viele - darunter auch der Dramatiker-Kollege
Friedrich Wolf - bezweifelten das damals und
sprachen von "politischem Intellektualismus".
Nur wenn der Zuschauer gefühlsmäßig
erlebe, wie die Courage sich verändere,
ändere er sich auch. Wenn aber die Courage
nichts lerne, lerne der Zuschauer auch nichts.
Sie warfen Brecht vor, er wolle auf der Bühne
große Gefühle verhindern und durch
"intellektuelle Belehrung" ersetzen.
Man verwies dabei auf die "Lehrstücke",
in denen Brecht ja direkte "Belehrung"
fordere. Übersehen wurde, daß bei
den Lehrstücken nicht das Publikum, sondern
hauptsächlich die Spieler lernen sollen.
Aber eben auch nicht durch "intellektuelle
Belehrung", spielend sollten sie die Widersprüche
am "eigenen Leib verspüren" und
so lernen, auch im wirklichen Leben mit Widersprüchen
umzugehen. Diese Stücke waren vor allem
für Schulen gedacht, in denen die Schüler
die "Künste aller Künste",
die Lebenskunst im Spiel erlernen sollten.
Brecht wünschte sich im "Epischen"
Theater aber nicht nur den Zuschauer, der der
Erzählung auf der Bühne folgt, er
wollte den kritischen Zuschauer, den "Miterzähler",
für den die Vorgänge auf der Bühne
nicht ein für allemal "schicksalhaft"
bestimmt, oder Neu-Deutsch "alternativlos"
sind. "Damit auf spielerische Weise das
Besondere der vom Theater vorgebrachten Verhaltensweisen
und Situationen herauskommt und kritisiert werden
kann, dichtet das Publikum im Geist andere Verhaltensweisen
und Situationen hinzu und hält sie, der
Handlung folgend, gegen die vom Theater vorgebrachten.
Somit verwandelt sich das Publikum selbst zum
Erzähler".
Hier war Brecht auch sein bester Zuschauer.
Irgendwann sah er in Leipzig den "Faust".
Und bei der berühmten Religionsszene, als
Gretchen von Faust wissen will, wie er es mit
der Religion halte, "ergänzte"
Brecht "im Geist" den Handlungsverlauf
mit der Frage, warum dieser Faust das Mädchen
eigentlich nicht heiratet. Denn für Brecht,
den "gelernten" Katholiken, war die
Frage nach der Religion eindeutig die Frage
nach den "Heiligen Sakramenten", das
heißt nach der Heirat. Faust beantwortet
die "einfache Frage" des Mädchens,
indem er zu einem glänzenden Vortrag über
den Pantheismus Spinozas ausholt. Für das
bürgerliche Theater war das ein Zeichen
besonderer Zuneigung des großen Gelehrten
zu dem "einfachen Mädchen aus dem
Volk". Brecht, der während dieser
Faust-Aufführung "im Geist" die
ketzerische Frage stellte, warum er sie dann
nicht heirate, entdeckte plötzlich etwas
ganz anders. Nicht Zuneigung ist es, es ist
ganz einfach Ausflucht. Faust will mit dem Mädchen
schlafen, nicht es heiraten. Brecht entdeckte
hier einen "genialen Zug des Goethinger".
Eine Liebesszene, die gleichzeitig eine Hinrichtung
ist. Das Mädchen wird daran sterben.
Z: Ich erinnere mich, daß
Sie einmal im "Dreigroschenheft",
als Sie auf die ursprüngliche Galilei-Fassung,
genannt die "dänische", zurückgingen,
geschrieben haben, das Ziel sei gewesen - im
Unterschied zu den anderen Fassungen, die von
Brecht nach dem Abwurf der Atombombe stark aktualisiert
waren - die Geschichte des Galilei wieder mehr
auch von ihrer Schönheit her zu zeigen.
Ästhetik und Politik - wie geht das bei
Brecht zusammen.
W: Schönheit an sich gibt es nicht. Jede
Zeit fragt, was für diese Zeit schön
ist. Und das ist auf dem Theater natürlich
nicht - wie man Brecht oft unterstellt - nur
die Nützlichkeit, die eine Sache schön
macht.. Es ist der Genuß, den sie bereitet.
Genuß aber ist nicht eine Eigenschaft
einer Sache wie die des Zuckers, süß
zu sein, Genuß ist die Tätigkeit,
wie der Mensch mit dieser Sache umgeht. Die
menschliche Tätigkeit macht sie erst schön.
Brechts Stück "Galileo Galilei"
ist nicht ein Diskurs über Entwicklung
der Physik und ihres politischen Versagens,
das letztlich zur Atombombe führte. So
etwas liefert die Gesellschafts- Wissenschaft
besser. "Galilei" ist ein Stück
über Physiker, nicht über Physik.
Also über Menschen und ihr Verhalten. Und
die Geschichte, die hier auf der Bühne
erzählt wird, ist die Geschichte der Widersprüche
einer großen Renaissance-Figur. Eines
Menschen, der beansprucht, auch aus Genuß
zu denken, über den es im Stück heißt:
"Zu einem alten Wein und zu einem neuen
Gedanken könnte er nicht nein sagen".
Dessen neuer Anspruch aber an einer alten Zeit
scheitert. Um die Größe dieser Figur
und ihres Scheiterns geht es in diesem Stück,
und von hier geht für mich eine wirkliche
Schönheit aus. Denn sie löst beim
Zuschauern Impulse aus, die Vorgänge um
Galilei auf sich und seine eigene Zeit zu beziehen.
Als Warnung wie auch als Ermunterung. Beides
- Warnung und Ermunterung - tragen zur Stärkung
der Lebensfähigkeit und der Lebenslust
bei. Das hieß für Brecht letzten
Endes, sie sind "schön". Brechtsche
Ästhetik und zwar mit ihren durch nichts
zu ersetzenden Möglichkeiten.
Z: Gerade was die Frage der Ästhetik
und ihres Verhältnisses zur Politik betrifft,
hat sich die Linke immer schwer getan. Die 68er
lehnten Ästhetik, angeblich dem Establishment
zugehörig, als bewußte Ablenkung
von der Politik ab.
W: Und fielen dabei hinter den
Heiligen Augustinus des Jahres 395 n. Ch. zurück,
der von der Musik immerhin noch sagte, sie sei
dafür da, daß die Gemeinde sich die
Psalmen besser merkt. Also er sprach immerhin
von einem Nutzen. Die "alten" Sozialdemokraten
sprachen wenigstens noch von Ästhetik als
der "kulturellen Umrahmung", mit der
man politische Versammlungen belebt. Piscator,
der "Erfinder" des Politischen Theaters
vor 1933 nannte es einen "Regie-Fehler",
wenn jemand in seinen Inszenierungen "Ästhetik"
entdecken sollte.
Man kann sagen, Brecht hat den Linken die Ästhetik
zurückgegeben, und zwar ohne daß
sie aufhören müssen "links"
zu sein. Produktivität und Ästhetik
schlossen sich auf einmal nicht mehr aus. Im
Gegenteil. Für Brecht gab es auf den Theater
keine Belehrung, die nicht zugleich "nobelstes
Geschäft" der Unterhaltung war.
Z: Wie wirkte sich das in Brechts
Theorie aus?
W: In den 50er Jahren, auf der
Suche nach Stoffen für neue Stücke
über die neue Gesellschaft, reichte Brecht
der Begriff "Episches Theater" nicht
mehr aus. Er beschränke sich zu sehr auf
das nur "Formale", auf die Machart.
Er sprach in dieser Zeit immer mehr von "Dialektischem
Theater": "Das Theater des wissenschaftlichen
Zeitalters vermag die Dialektik zum Genuß
zu machen. Die Überraschungen der logisch
fortschreitenden oder springenden Entwicklung,
der Unstabilität aller Zustände, der
Witz der Widersprüchlichkeiten usw., das
sind Vergnügungen an der Lebendigkeit der
Menschen, Dinge und Prozesse, und sie steigern
die Lebenskunst sowie die Lebensfreudigkeit."
In den letzten Gesprächen aber reichte
ihm auch der Begriff "Dialektisches Theater"
nicht mehr. Er sei "zu philosophisch, ihm
fehle das Ästhetische".
Wir waren damals 1956 in Buckow mit der Vorbereitung
der Uraufführung "Die Tage der Commune"
beschäftigt, die Benno Besson und ich in
Karl-Marx-Stadt machen sollten. Das Stück
"Die Tage der Commune" gilt als ja
als das am meisten politische Stück Brechts,
da es das große politische Thema der Entstehung
und des Untergangs der ersten Arbeiterregierung,
der Pariser Commune von 1871, direkt zum Gegenstand
hat.
Brecht verwahrte sich damals gegen einen solchen
Begriff des "Politischen Theaters",
der allein das politische Thema zum Kriterium
hat. Stücke mit politischen Themen könnten
außerordentlich unpolitisch sein, zum
Beispiel wenn sie langweilig sind. Wenn der
Politik die Kunst fehle. Und Stücke, in
denen Politik nicht vorkommt, könnten außerordentlich
politisch sein. In seinem Stück "Die
Kleinbürgerhochzeit" gibt es nicht eine
einzige Erwähnung von Politik, trotzdem
wäre es - bei richtiger Spielweise - eine
direkte politische Kritik des Kleinbürgertums,
das im eigenen Saft schmort. Man entdecke das
Kleinbürgertum als gefährlichen Feind
der Revolution, zumal es auch Revolutionäre
befallen kann. Für ihn sei "Politisches
Theater" nicht das politische Thema, sondern
die politischen Haltung, die es zeigt und die
es auslöst. Eine politische Haltung aber
sei für ihn, die Fähigkeit und Lust
zur Veränderung der Verhältnisse.
Auch in dem Stück "Die Tage der Commune"
sei es nicht hauptsächlich das politische
Thema, was es zum Politischen Theater mache.
Die Forderung des jungen Arbeiters und Communarden
Jean Cabet, nach dem Sieg der Commune trotz
dringender politischer Aufgaben auch Zeit für
seine Liebe zur Näherin Babette zu haben,
ist mindestens so politisch, wie die Eroberung
des Pariser Stadthauses durch Arbeiterbataillone.
"Es ist die Forderung nach Veränderung
der Lebensweise der Menschen. Schließlich
werden Revolutionen deswegen gemacht."
Brecht sprach damals - sehr vorsichtig noch
- von seinem Theater als "Philosophischem
Volkstheater". In diesen Gesprächen
sprach er auch, wie schon gesagt, zum erstenmal
von "Naivität" als einer der
wichtigsten ästhetischen Kategorien, und
er beklagte sich, daß man bisher sein
gesamtes Werk zu "unnaiv" betrachtet
habe.
Die Verbindung solcher Gegensätze wie Philosophie
als eine hohe Form des Denkens mit der "niederen"
Naivität des Volkstheaters, haben ihn schon
immer gereizt. So beantwortete er die Frage,
wer denn seine Lehrer gewesen seien, stets mit
"Karl Marx und Karl Valentin".
Eine Analyse des "Philosophischen Volkstheaters"
blieb uns Brecht schuldig. Ich notierte mir
am Rande nur eine Bemerkung, mit der Brecht
damals grinsend das Gespräch abschloß:
"Warum soll man nicht den Weltgeist zum
Entertainer machen, da muß er sich wenigstens
mal sehen lassen".
Ich glaube, wir haben damals sehr gelacht.
veröffentlicht
in:
Z ZEITSCHRIFT MARXISTISCHE ERNEUERUNG,
Nr. 66, Juni 2006, S. 7 - 37
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