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"Leben des Galilei" 1955
am Berliner Ensemble:
Probe mit Martin Flörchinger, Bertolt Brecht
und Ernst Busch (v.l.n.r.)
"Coriolan" 1964 am Berliner
Ensemble:
Hilmar Thate und Ekkehard Schall (v.l.)
"neues theater halle"
1997:
"König Richard III."
in der Inszenierung von Manfred Wekwerth
Helene Weigel und Ernst
Busch in
"Mutter Courage und ihre Kinder"
1951 am Berliner Ensemble
|
Brecht-Theater
- eine Chance für die Zukunft?
Überarbeitete und erweiterte
Fassung der Eröffnungsvorlesung zum Brecht-Colloquium
anläßlich der Internationalen Buchmesse
in Havanna (Februar 2004),
hier in überarbeiteter Form nach dem Artikel
in: DAS ARGUMENT, Sonderheft 255/2004
Den Titel habe ich mit einem Fragezeichen
versehen. Es ist also eine Frage, die ich stelle.
Und sicherlich erwartet man von mir, daß
ich sie ohne zu zögern bejahe. Ich werde
es nicht tun, und das hat zwei Gründe.
Der erste Grund ist unsere Zeit
selbst. Sie ist mehr und mehr von einem bedenkenlosen
Aktionismus befallen, der von rigoroser Effektivität,
bedingungslosem Erfolgszwang und Einsparung
jeglicher Verschwendung, wie der an Gedanken
und Geduld, geprägt ist. Man gibt Antworten,
bevor die Fragen gestellt sind. Man verkündet
Resultate, bevor überhaupt geforscht wurde.
Man nennt etwas richtig oder falsch, gut oder
böse, nicht, weil man es als solches. erkannt
hat, sondern, um es vorhandenen und gewünschten
Erkenntnissen anzupassen. Unternehmungen von
Tragweite bedürfen nicht mehr irgendwelcher
Begründungen, da sie auch unternommen werden,
um Begründungen zu finden. Was Wirklichkeit
ist, entscheidet seine Wirksamkeit. In der Wissenschaft
führt so etwas zur Lächerlichkeit.
In der Politik zur Katastrophe, deren aktueller
Ausdruck der Präventivschlag ist.
Kaiser Wilhelm mußte 1914 noch auf die
Schüsse von Sarajevo warten, um Serbien,
das ihn seit langem störte, anzugreifen.
Selbst Hitler brauchte noch den Überfall
auf den deutschen Sender Gleiwitz, den er mit
Deutschen, als Polen verkleidet, selbst inszenierte,
um den Zweiten Weltkrieg zu beginnen.
Heute sind solche Gründe
überflüssig. Der Krieg selbst ist
Grund genug, da man ihn braucht, auch um Gründe
zu finden. Und selbst wenn keine Gründe
gefunden werden, ist das noch lange kein Grund,
mit dem Krieg aufzuhören, da man mit Bedacht
und in vorchristlich-manichäistischer Weise
die Welt in Gut und Böse eingeteilt hat
und sich selbst die Rolle des Guten zudachte,
ständig bedroht vom Reich des Bösen
und den Staaten der Schurken. Und wer will einen
Angreifer, der das Gute ist, hindern, sich gegen
sein Opfer, das Böse also, zu wehren? Im
Gegenteil. Da der Gute nicht nur das Recht des
Guten sondern auch des Stärkeren hat, hat
er auch das Recht, sich Beschützer seines
Opfers zu nennen und von ihm - wie in den guten
alten Zeiten im Chicago der Prohibition - Schutzgeld
zu verlangen, heute in Gestalt von Öl,
Freihandelszonen, Militärbasen, Willigkeit
usw.
Der andere Grund, warum ich die
Frage, ob Brechttheater eine Chance für
unsere Zeit ist, nicht sofort beantworte, ist
Brecht selbst. Brecht haßte die schnellen
Antworten. Selbst wenn er eine Antwort gefunden
hatte und sie ihm gefiel, zog er sie immer wieder
in Zweifel, gerade weil sie gefiel. Er nannte
es die "kritische Haltung" (Kleines
Organon, GA 23, 73), die nicht nur ein Schlüssel
seines Denkens und Verhaltens, sondern auch
seines Theaters ist. Den Zweifel nannte er ein
Grundanliegen der Gattung Mensch, der die Menschwerdung
erst ermöglichte und noch heute ermöglicht.
Dem Lob des Zweifels widmete Brecht einige seiner
schönsten Gedichte.
Aber an einer Stelle seines Galileo Galilei,
die zumeist nur für einen naturwissenschaftlichen
Disput gehalten wird, gibt Brecht, wie selten,
unmittelbar Auskunft über seine ganz persönliche
Methode, zu denken und zu handeln. Es ist die
9. Szene, in der Galilei, trotz des Verbotes
durch die Inquisition, seine Forschungen wieder
aufnimmt. Von seinen Schülern zur Eile
gedrängt, seine Meinung zu den kürzlich
entdeckten Sonnenflecken zu sagen, die den Stillstand
der Sonne und die Bewegung der Erde beweisen
würden, antwortet Galilei:
Meine Absicht ist nicht zu beweisen,
daß ich bisher recht gehabt habe, sondern:
herauszufinden, ob. Ich sage: Laßt alle
Hoffnung fahren, ihr, die ihr in die Beobachtung
eintretet. Vielleicht sind es Dünste, vielleicht
sind es Flecken, aber bevor wir Flecken annehmen,
welche uns gelegen kämen, wollen wir lieber
annehmen, daß es Fischschwänze sind.
Ja, wir werden alles, alles noch einmal in Frage
stellen. Und wir werden nicht mit Siebenmeilenstiefeln
vorwärtsgehen, sondern im Schneckentempo.
Und was wir heute finden, werden wir morgen
von der Tafel streichen und erst wieder anschreiben,
wenn wir es noch einmal gefunden haben.
Und was wir zu finden wünschen,
das werden wir, gefunden, mit besonderem Mißtrauen
ansehen. Beginnen wir also unsere Überlegungen
nicht damit, daß wir sagen, Brechttheater
ist eine Chance für unsere Zeit, was uns
gelegen käme, sondern schreiben wir - dem
Rat Galileis folgend - an die Tafel: Brechttheater
ist von der Zeit überholt. Und suchen wir
nach möglichst guten Einwänden, die
das belegen könnten.
Also werden wir an die Beobachtung der Sonne
herangehen mit dem unerbittlichen Entschluß,
den Stillstand der Erde nachzuweisen! Und erst
wenn wir gescheitert sind, vollständig
und hoffnungslos geschlagen und unsere Wunden
leckend, in traurigster Verfassung, werden wir
zu fragen anfangen, ob wir nicht doch recht
gehabt haben und die Erde sich dreht! [...]
Sollte uns aber dann jede andere Annahme als
diese unter den Händen zerronnen sein,
dann keine Gnade mehr mit denen, die nicht geforscht
haben und doch reden. Nehmt das Tuch vom Fernrohr
und richtet es auf die Sonne!
Beginnen wir also unsere Überlegungen
nicht damit, daß wir sagen, Brechttheater
ist eine Chance für unsere Zeit, was uns
gelegen käme, sondern schreiben wir - dem
Rat Galileis folgend - an die Tafel: Brechttheater
ist von der Zeit überholt. Und suchen wir
nach möglichst guten Einwänden, die
das belegen könnten.
ERSTER EINWAND
Brechttheater ist eine Verarmung
und in seiner Parteilichkeit eine Vereinseitigung
des Theaters, da es Lehranstalt für politische
Ideologien sein will. Brecht reagierte auf seine
Zeit mit der extremen Auffassung, man könne
Publikum durch Theater belehren. Das ist ein
fundamentaler Irrtum. Die politische Rolle des
Theaters - und es ist sehr politisch - ist nicht,
Lösungen zu bieten und Ideologie zu vermitteln.
Diese Idee der Lehrstücke ist eine Überheblichkeit,
die kein Mensch akzeptieren kann. Sie geht davon
aus, daß die Gesellschaft aus Kindern
besteht, die man belehren müsse. Das Lehrstück
ist eine gefährliche Ausdrucksform, es
vermittelt Stalinismus. Irgendwann schrieb Brecht
auch ein großes Stück zur Rechtfertigung
Stalins. Wirkliches Theater zeigt politische
Situationen, indem es alle Widersprüche
zur Darstellung bringt. Es stellt gleichsam
einen Spiegel auf, der die Komplexität
der Widersprüche zeigt. Es vertraut dem
Publikum und seiner Fähigkeit, selbst erwachsene
Schlußfolgerungen zu ziehen.
Da dieser Einwand von einem Großen
des europäischen Theaters, Peter Brook,
kommt, möchte ich zunächst eine Gegenfrage
stellen: Was ist eigentlich Brechttheater? Ist
es ein Theater, das nur Brecht spielt? Dann
wäre das Berliner Ensemble, auch zu Brechts
Zeiten, kein Brechttheater gewesen, denn es
spielte mehr Stücke anderer Autoren als
die von Brecht. Schon die zweite Premiere nach
der Gründung 1949 war Wassa Shelesnowa
von Maxim Gorki, es folgten Der Hofmeister von
Lenz und Biberpelz und Roter Hahn von Gerhart
Hauptmann. Sind, wie im Einwand formuliert,
die Lehrstücke typischer Ausdruck von dem,
was man Brechttheater nennt? In ihnen verzichtete
Brecht auf das "Kulinarische", wie
er es nennt, und will tatsächlich direkte
Belehrung.
Abgesehen davon, daß die Lehrstücke
Brechts unmittelbare Reaktion auf die Situation
der Klassenkämpfe der 20er und 30er Jahre
waren, in der nichts nötiger gebraucht
wurde als Wissen über Zusammenhänge
von Kapital, Arbeitslosigkeit und Faschismus,
waren die Lehrstücke zur Belehrung der
Spieler, nicht des Publikums gedacht (weshalb
sie Brecht auch hauptsächlich für
Schulen schrieb). Spielend sollten die Darsteller
widersprüchliche Situationen am "eigenen
Leibe" erfahren, um Widersprüche in
der Wirklichkeit besser erkenn und mit ihnen
umgehen zu können. Nicht die "Lösung
wurde vermittelt", sondern die Fähigkeit,
richtige Fragen zu stellen und dafür selbst
Antworten zu finden. Aber auch das nicht als
"Lehranstalt für Ideologie",
sondern im Spaß des Spielens, also als
ästhetischer Genuß. Ich selbst habe
gerade mit Kindern an einem Lehrstück gearbeitet.
Es ist Der Brotladen, ein Textfragment über
Arbeitslosigkeit von Brecht aus dem Jahr 1929,
in dem Arbeitslose, um sich über ihre Lage
klar zu werden, selbst spielen und auch jene
darstellen, die sie arbeitslos machten. Die
Kinder kamen aus verschiedenen Schulen und sozialen
Schichten, nur in einem Punkt übereinstimmend:
Daß sie noch nie nach den wirklichen Ursachen
der Arbeitslosigkeit gefragt hatten. Spielend
entdeckten sie Zusammenhänge: "Reicher
Mann und armer Mann / Standen da und sahn sich
an / Und der Arme sagte bleich: / Wär ich
nicht arm, wärst du nicht reich" (Brecht)
Aus der Probenarbeit heraus kam die Idee, die
Premiere nicht in einem Theater, sondern im
Arbeitsamt zu machen, also vor Arbeitslosen.
Selbst zu Erkenntnissen gekommen, vermittelten
"die Kinder", Arbeitslose darstellend,
den Arbeitslosen nicht nur ihre "Entdeckungen",
sondern auch den Spaß am Entdecken und
das trotz des bitteren Themas. Die gefährliche
Ausdrucksform, die laut Brooks EINWAND "Stalinismus
vermittelt", vermittelte in diesem Falle
etwas ganz anderes:
Das Theater des wissenschaftlichen
Zeitalters vermag die Dialektik zum Genuß
zu machen. Die Überraschungen der logisch
fortschreitenden oder springenden Entwicklung,
der Unstabilität aller Zustände, der
Witz der Widersprüchlichkeiten und so weiter,
das sind Vergnügungen an der Lebendigkeit
der Menschen, dinge und Prozesse, und sie steigern
die Lebenskunst sowie die Lebensfreudigkeit.
(Brecht, GW 16, 702)
Dem Generalissimus wäre so
etwas sicherlich ein Graus, denn er hat, wie
Brecht in seinem Nachruf auf ihn schreibt, die
Dialektik abgeschafft. In seinen berühmten
Vier Grundzügen der Dialektik fehlt eines:
die Dialektik. Die Einheit der Widersprüche
kommt bei Stalin nicht vor. Auch das "große
Stück, das Brecht zur Rechtfertigung Stalins
schrieb", hätte Stalin bestimmt keine
Freude gemacht. Denn in der Maßnahme,
die hier offenbar gemeint ist, kontrolliert
und befragt ein Chor alle Maßnahmen der
Funktionäre, so daß das Stück
wegen seiner schonungslosen Dialektik von der
stalinorientierten kommunistischen Presse bei
seiner Uraufführung 1930 bekämpft
wurde. "Ein prominenter kommunist sagte:
wenn das kommunismus ist, dann bin ich kein
kommunist. vielleicht hat er recht." (Brecht
1930) Und was die Parteilichkeit
betrifft, so wird hier - wie üblich - parteilich
mit parteiisch verwechselt.
Aber was ist nun Brechttheater? Bevor es etwas
anderes ist, ist es Theater. Und Theater besteht
- jedenfalls nach Brecht - darin, "daß
lebende Abbildungen von überlieferten oder
erdachten Geschehnissen zwischen Menschen hergestellt
werden, und zwar zur Unterhaltung" (GA
23, 66) hatte man erwartet, daß Brecht
1948, nach Deutschland zurückkehrend aus
der Emigration, wieder zu den Lehrstücken
greift, um Wissen unter die besiegten und verwirrten
Leute zu bringen, schreibt er gerade in dieser
Zeit sein Kleines Organon für das Theater:
Widerrufen wir also, wohl zum
allgemeinen Bedauern, unsere Absicht, aus dem
Reich des Wohlgefälligen zu emigrieren,
und bekunden wir, zu noch allgemeinerem Bedauern,
nunmehr die Absicht, uns in diesem Reich niederzulassen.
Behandeln wir das Theater als eine Stätte
der Unterhaltung, wie es sich in einer Ästhetik
gehört, und untersuchen wir, welche Art
der Unterhaltung uns zusagt! (GA 23, 66)
Spricht man von Brechttheater,
sollte man beachten, daß auf diesem Theater
keine Belehrung stattfindet, die nicht unterhaltsam
ist. Es wird keine Philosophie gegeben und keine
Politik, ohne den Spaß und das Vergnügen
daran. Ja, Brecht ergänzte in den fünfziger
Jahren die bekannte These, daß es auch
auf dem Theater darauf ankomme, die Welt nicht
nur zu interpretieren, sondern zu verändern:
"Es ist nicht genug verlangt, wenn man
vom Theater nur Erkenntnisse, aufschlußreiche
Abbilder der Wirklichkeit verlangt. Unser Theater
muß die Lust am Erkennen erregen, den
Spaß an der Veränderung der Wirklichkeit
organisieren." (Notate zu Katzgraben, GA
25, 418)
Sieht man Brecht-Texte einmal nicht nur nach
ihrem Inhalt durch, sondern nach der Methode
statistischer Wahrscheinlichkeit, wie oft zum
Beispiel bestimmt Wortwendungen vorkommen, wird
man eine überraschende Entdeckung machen:
Begriffe wie "erkennen", "verändern",
"produzieren" kommen selten allein
vor. Es fast immer das "Vergnügen
des Erkennens", die "Lust zur Veränderung",
der "Spaß der Dialektik", die
"Leidenschaft des Produzierens", der
"Witz des Widersprüchlichen",
der "Genuß an der Lebendigkeit der
Menschen, Dinge und Prozesse, usw." Diese
Begriffe werden merkwürdigerweise zumeist
übersehen, weil sie dem falschen Bild vom
Rationalisten Brecht nicht entsprechen. Man
hält sich lieber an das reine Wissen, die
"reine" Produktivität, die "reine"
Erkenntnis, die "reine" Belehrung
- ohne das Theater.
In den letzten Gesprächen, die ich im Herbst
1956 mit Brecht hatte, beklagte er sich bitter,
daß man sein Theater "unnaiv"
betrachte. Als wollte er Theater durch Wissenschaft
ersetzen. Dabei habe er doch die Wissenschaften
hinzugezogen, nicht um das theatralische Vergnügen
zu verringern, im Gegenteil. So wie Shakespeare
zu seiner Zeit die neuesten Errungenschaften
der Wissenschaften hinzuzog, zum zu ganz neuen
Leidenschaften, Späßen und Figuren
zu kommen, die dem alten Theater abhanden gekommen
waren. Damals wurde Plutarch aus dem Lateinischen
das erste Mal ins Englische übersetzt.
Shakespeare benutzte ihn sofort für seine
Tragödie des Coriolan. Oder Thomas Morus,
Verfasser der Utopia. Seine Lebensbeschreibung
von König Richard dem Dritten (die übrigens
eine Fälschung ist) verarbeitete Shakespeare
sofort zu einem Stück, bis heute wahrscheinlich
eines der bühnenwirksamsten Stücke
überhaupt.
Aber auch Marx - so Brecht in jenem Herbst 1956
- sei ohne Begriffe wie Lust, Spaß, Genuß
überhaupt nicht zu verstehen. Und auch
bei ihm lese man gern darüber hinweg. Dabei
stehe es in den Grundrissen schwarz auf weiß:
Der Zweck der Gesellschaft und der Zweck des
Menschen ist der Mensch selbst. Der Mensch ist
Selbstzweck. Um dies allerdings zu erkennen
und zu erreichen, sei allerhand gesellschaftliche
Anstrengung nötig. Doch Vergesellschaftung
heiße ja nicht, den Menschen als einzelnen
auszulöschen, sondern ihm die Chance zu
geben, seine Individualität, also seine
Verschiedenheit zu entwickeln und so, wie Marx
sage, "zu der Universalität der Eigenschaften,
Fähigkeiten, Genüsse usw. zu kommen".
Ein Satz von damals ist mir noch im Gedächtnis,
mit dem Brecht das Gespräch beendete: "Marx
und Gleichmacherei! Ein Blödsinn. Erst,
wenn alle auf gleicher Stufe stehen, wird man
ihre Unterschiede bemerken." Bevor man
also von Brechttheater redet, muß man
wissen, daß Theater gemeint ist - Theater
mit runden, vitalen, widersprüchlichen,
poetischen Figuren. Als 1954 nach der Premiere
des Kaukasischen Kreidekreises, bei der ich
das Glück hatte, Co-Regisseur von Brecht
zu sein, die Darstellerin der Grusche, Angelika
Hurwicz, entsetzt zu Brecht kam, weil das Publikum
am Ende geweint hat, als der Armeleuterichter
Azdak ihr das Kind der Gouverneurin zusprach,
beruhigte sie Brecht: "Dann haben Sie richtig
gespielt." Das Publikum habe gegen seine
eignen Interessen geweint. Denn dieselben Leute
würden doch in ihrem eigenen Leben kaum
zustimmen, wenn Eigentum nicht mehr nach dem
Erbrecht, sondern nach der Nützlichkeit
verteilt würde. Dazu müsse man schon
einiges erschüttern.
ZWEITER EINWAND
Brecht war Marxist und wollte
die Welt verändern. Marx ist tot. Die Welt
hat sich als unveränderbar erwiesen. Der
Kapitalismus hat gesiegt.
Zunächst: Selbst, wenn dem
so wäre, wäre das ja eine enorme Veränderung.
Tatsächlich hat sich die Welt im letzten
Jahrzehnt atemberaubend verändert und zwar
mehr, als es von rechts wie von links je erwartet
wurde. Auch wenn die Veränderung andere
sind, als die - auch von Brecht - geplanten,
kann man ja nicht die Veränderungen in
Zweifel ziehen, allenfalls den Plan. Brecht
wäre der letzte, der einen Plan, wenn er
gescheitert ist nicht in Zweifel ziehen würde,
denken wir an sein schönes Gedicht "Lob
des Zweifels". Aber Brecht lobt den Zweifel
nicht, um zu verzweifeln, sondern um besonders
nach Niederlagen mut zu finden, von neuem zu
beginnen, indem man alles Bisherige in Zweifel
zieht und überprüft.
Der Sozialismus in Europa - sofern es überhaupt
schon Sozialismus war - ging zugrunde, als habe
sich Lenins Voraussage von 1921 erfüllt:
"Niemand kann den Kommunismus verhindern,
wenn nicht die Kommunisten ihn selbst verhindern";
wenn sie zum Beispiel die Grundregel vergessen:
die konkrete Analyse der konkreten Situation.
Für die Emanzipation der Menschen ist der
Verlust von Alternativen eine Katastrophe. Aber,
vielleicht auch eine Erfahrung, die hilfreich
sein kann bei einem erneuten Versuch, "alle
Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch
ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes,
ein verächtliches Wesen ist" (MEW
1, 385). Denn in diesen Worten des jungen Marx
sah Heiner Müller zum Beispiel, sonst Skeptiker
aus Leidenschaft, den "praktischen Glutkern
des Marxismus", der seiner Meinung nach
nie erlöschen wird. So kann die Niederlage
des Sozialismus auch Erkenntnis sein, daß
es ohne Demokratie, verstanden als wirkliche
Herrschaft des Volkes, keinen Sozialismus geben
wird. Ja, daß zum Beispiel Volkseigentum
erst durch die wirkliche Übernahme der
Betriebe durch die Produzenten zum Volkseigentum
wird. Hier gilt Brechts Warnung: Was sind Staaten
ohne die Weisheit des Volks? Oder wie es Heiner
Müller radikaler sagt: "In der Sowjetunion
und in der DDR wurde der groß angelegte
Versuch unternommen, Marx zu widerlegen. Der
Versuch ist gescheitert".
Doch hin wie her: der Kapitalismus hat gesiegt.
Hat der das wirklich? Bei der Demonstration
der 500 000, 15. Februar 2003 in Berlin, gegen
Bushs Überfall auf den Irak, sah ich zwei
Transparente. Auf dem einen stand: EINE ANDERE
WELT IST MÖGLICH. Auf dem andern: DER KAPITALISMUS
HAT NICHT GESIEGT - ER IST ÜBRIGGEBLIEBEN.
Er ist übriggeblieben mit
all seinen Widersprüchen, verschärft
durch die Tatsache, daß ihm sein altes
Feindbild verlorenging. Das Feindbild des Kommunismus
als "Reich des Bösen" hielt die
verfeindeten Brüder des Kapitals einigermaßen
zusammen; bremste den Abbau des Sozialen und
Menschlichen und ließ die Legende von
der "sozialen Marktwirtschaft" aufkommen.
Ohne Gegenkraft - und mindestens als Gegenkraft
war der Sozialismus real - wird das Kapital
hemmungs- und uferlos und findet zu seiner Normalität,
also zum Kapital, von Marx zurück. Und
während ich in einer sozialistischen deutschen
Zeitung auf die Frage, ob Marx überholt
ist, lese: Er sei so wenig überholt wie
die Höhlenmalerei der Steinzeit, man müsse
ihn nur als Dichtung behandeln und nicht als
Wissenschaft, klingt es heute aus den USA schon
anders:
In den dreißiger Jahren
wurde der Faschismus bisweilen als Kapitalismus
ohne Maske bezeichnet, das heißt
als reiner Kapitalismus ohne demokratische Rechte
und Organisationen.
Wir wissen heute, daß diese Definition
zu einfach ist, aber auf den heutigen Neoliberalismus:
trifft sie zu: Er ist tatsächlich ein Kapitalismus
ohne Maske. Repräsentiert er doch
eine Epoche, in der die Wirtschaftsmächte
stärker und aggressiver sind und auf weniger
organisierten Widerstand treffen als je zuvor
[...] Lauthals und hartnäckig verkündet
der Neoliberalismus, daß es keine Alternative
zu ihm gebe und die Menschheit ihren höchsten
Stand erreicht habe, also das Ende der
Geschichte, was schon viele Epochen vor
ihm behaupteten.
Das schreibt Robert W. McChesney
in der Einleitung zu Noam Chomskys Buch Profit
over People. Die Zeit, so scheint es,
hat Brecht wieder eingeholt. Waren seine Stücke
für viele Vergangenheit, sind sie heute
greifbare Gegenwart. Die Massenarbeitslosigkeit
zum Beispiel in Die heilige Johanna der Schlachthöfe,
geschrieben 1930, ist nicht (wie Johanna glaubt
und wie wir es heute lesen) Resultat einer Wirtschaftsflaute
und mit dem nächsten Aufschwung wieder
zu beheben. Die "industrielle Reservearmee"
(Marx) ist Bestandteil des funktionierenden
Kapitalismus. Nicht seine Flaute, sein Erfolg
produziert sie. Denn mit den Aktienkursen steigen
auch die Arbeitslosenzahlen. Was man heute "shareholder
value" nennt, war für Brecht die "soziale
Sintflut". Aber er wäre nicht Dialektiker,
wenn er im Aufstieg des Kapitals nicht auch
seinen Abstieg sähe. In diesem Zusammenhang
erzählte er gern eine Anekdote aus den
dreißiger Jahren: Henry Ford, der Ältere,
zeigt Philippe Reuther, dem Vorsitzenden der
Gewerkschaft der Automobilarbeiter, stolz eine
Fabrikhalle, in der nur noch Automaten arbeiten.
"Diese Automaten", sprach Henry Ford,
"werden nicht mehr streiken". "Nein",
antwortete Philippe Reuther, "aber sie
kaufen auch keine Autos". Doch nicht nur
die Stücke Brechts, auch seine Art und
Weise, sie auf der Bühne darzustellen,
eben die "Verfremdung", verdient unsere
Aufmerksamkeit in einer Welt, die sich gern
selbst verklärt, um nicht erkannt zu werden.
"Demokratisierung" sagt man, wenn
man ein Land überfällt, um den Kapitalismus
wieder einzuführen. In einer "Wissensgesellschaft"
leben wir, sagt man jenen, denen man durch Schulabbau,
Lehrermangel, Studiengebühren und Elitekult
das Wissen vorenthält. Und jene "Informationsgesellschaft",
die den Kapitalismus angeblich abgelöst
hat, macht jede Information zur Ware, deren
Wert nicht die Information ist, sondern der
Verkauf. Hier ist Verfremdung, also der Blick,
der hinter dem Gewohnten die ungewöhnlichen
Ursachen entdeckt, heute nicht nur ein geeignetes
Mittel des Theaters, sondern die Chance, sich
im gewöhnlichen Leben zurechtzufinden.
Es gibt auch heitere Aktualitäten. Erst
kürzlich traf ich einen Schweizer Millionär,
der in tiefer Sorge war. Er hat ein gut gehendes
Unternehmen und zwei Söhne. Der eine sechs
Jahre, der andere zehn. Seine Sorge: Wie soll
er seine Söhne erziehen? Als guter Christ
will er, daß sie gute Christen werden,
und da gilt Moses: "Liebe deinen Nächsten
wie dich selbst". Aber seine Söhne
sollen auch einmal die Firma übernehmen,
und da wäre die Liebe zum Nächsten
ruinös. Denn da gilt: Nieder mit der Konkurrenz!
Er fand seinen Seelenfrieden wieder, als ich
ihm Brechts Der gute Mensch von Sezuan zu lesen
gab. Eine gute Shen-te, die allen Gutes tut,
und der böse Vetter Shui-ta, der die Verluste,
die das Gutsein bringt, durch Härte wieder
ausgleicht, und alles in einer einzigen Person,
das schien unserem Schweizer Millionär
ein gangbarer Ausweg aus seiner Glaubenskrise
zu sein.
Trotz der Brecht-Renaissance, der vorhandenen
und der zu erwartenden, soll das nicht heißen,
daß Brecht alles voraussah und nie irrte.
Sein Glaube an die Arbeiter und ihre Klasse
zum Beispiel, der bei ihm schon fast religiöse
Züge trug, hat sich nicht erfüllt.
Sein Satz "Wo ein Arbeiter ist, ist nicht
alles verloren", formuliert 1932 in Die
Mutter, erwies sich damals schon als Utopie.
Viele Arbeiter stimmten für Hitler. Und
wie erst muß es heute Utopie sein: Die
Angst um den Arbeitsplatz und eine gigantische
Arbeitslosenarmee, vom Kapital organisiert durch
Zurücknahme von 150 Jahren Arbeiterbewegung,
dazu eine bis dahin nie gekannte Medienattacke,
die das als alternativlos hinstellt, bringen
viele Arbeiter dazu, nicht mehr gegen Ausbeutung
zu kämpfen, sondern dafür, sich ausbeuten
zu lassen, also um den Arbeitsplatz. Aber soll
man deswegen jede Utopie aufgeben, nur weil
eine nicht in Erfüllung ging? Verlust von
Utopien ist Verlust an Lebenswillen. Aber gerade
die Stärkung des Lebenswillens ist erklärtes
Ziel künstlerischer Betätigung, jedenfalls
nach Brecht. Oder wie es Jürgen Habermas
ausdrückt: "Wenn die utopischen Oasen
austrocknen, breitet sich eine Wüste von
Banalität und Ratlosigkeit aus." Von
Brechts Utopie, einer Gemeinschaft von freien
Produzenten, die Emanzipation, Chancengleichheit
und Gerechtigkeit erwirkt, bleibt die Hoffnung,
daß sich auch heute genügend Leute
finden werden, die die Unerträglichkeit
der Zustände empfinden, erkennen und beseitigen.
"Marx ist tot, und Brecht hat sich mit
ihm erledigt". Noch einmal nachdenkend
über diesen Einwand kommen mir doch Zweifel.
Ein evangelischer Pfarrer, den ich neulich traf,
wurde deutlicher: "Nicht einmal Jesus,
würde er heute leben und die Mühseligen
und Beladenen zu sich bitten, würde ohne
Marx auskommen."
DRITTER EINWAND
Brecht glaubt an die Vernunft.
Durch eingreifendes Denken wollte er Vernunft
verbreiten, daß die Menschen die Welt
erkennen und verändern. Vernunft, seit
Diderot als Allheilmittel gepriesen, hat sich
als die eigentliche Krankheit erwiesen. Wissenschaftsgläubigkeit
als fataler Irrtum. Die Welt ist nicht erkennbar.
Diesen Einwand will ich ganz kurz
beantworten, nämlich mit Brecht selbst.
Man schrieb das Jahr 1954. Das Berliner Ensemble
befand sich auf seiner ersten Paris- Tournee:
Gezeigt wurde Mutter Courage und ihre Kinder,
der Erfolg war enorm. Brecht, der Erfolg liebte,
aber den Erfolgsrummel nicht mochte, zog sich
in das kleine Café im berühmten
Théâtre Sarah Bernhardt, unserem
Spielort, zurück. Und eben da fand eine
historische Begegnung statt. Eugène Ionesco,
Mitbegründer des Absurden Theaters der
50er/60er Jahre, hatte Brecht aufgespürt.
Umgeben von Anhängern, die ihn bewunderten,
stellte er Brecht zur Rede: "Ich beschuldige
Sie, Herr Brecht, der Tötung der Gefühle
auf der Bühne und des Terrors der Vernunft."
Seine Rede gipfelte in dem Ausruf: "Geben
Sie sich keine Mühe, Brecht, diese Welt
ist unerkennbar!" Brecht wandte, wie er
es immer tat, wenn ihm etwas unbehaglich war,
mehrmals den Kopf hin und her, und sagte dann
sehr leise, aber deutlich: "Wenn die Welt
unerkennbar ist, Herr Ionesco, woher wissen
Sie das dann?"
Ich weiß nicht mehr, was Ionesco antwortete.
Ich weiß nur, daß er Brecht niemals
wieder in Sachen Vernunft angesprochen hat.
VIERTER EINWAND
Brecht will politisches Theater.
Obwohl dies wahrscheinlich der
häufigste Einwand ist, trifft man ihn meistens
ohne Begründung. Es scheint selbstverständlich,
daß politisches Theater heute antiquiert
ist, überholt, ja lächerlich. Das
letztere ist nicht einmal von der Hand zu weisen,
wenn man unter Politik versteht, was die sogenannte
"politische Klasse", die heutige Politiker-Garde,
aufführt, denn es ist perfektes Schmierentheater.
Aber auch wenn man das politische Theater Brechts
nimmt, scheint sein Schicksal besiegelt. Es
konnte in den letzten Jahren weder den sozialen
Kahlschlag mit der verheerenden Massenarbeitslosigkeit
verhindern, noch die Rückkehr des Kriegs
als Fortsetzung der Politik, und auch nicht
die Neubelebung des Faschismus, obwohl in dieser
Zeit gerade Stücke wie Der aufhaltsame
Aufstieg des Arturo Ui und Die heilige Johanna
der Schlachthöfe gespielt wurden, die sich
direkt gegen diese Entwicklung wehren. Der Verzicht
auf politisches Theater ist bei Theaterleuten
oft nicht Ablehnung, sondern Resignation. Doch
die Enttäuschung über die Wirkungslosigkeit
des Theaters ist eigentlich ein Resultat der
Überschätzung des Theaters. Der Meinung
nämlich, Theater könne allein die
Welt verändern.
Brecht hat nie behauptet, daß Theater
die Welt verändern kann. Theater kann politische
Bewegungen beleben oder bremsen, es kann sie
nicht ersetzen. Im Beleben politischer Bewegungen
allerdings vermag es mehr als alle anderen Künste.
Beaumarchais' Figaros Hochzeit oder Der tolle
Tag verursachte gewiß nicht die Französische
Revolution, löste aber in der revolutionären
Situation von 1784 eine Bewegung aus, die der
Sturm auf die Bastille direkt fortsetzte. Brechts
Galilei konnte die Atombombe nicht verhindern,
aber bestimmt hat es die Zahl der Freunde der
Atombombe vermindert und so etwas wie ein Weltgewissen
geweckt. Eine Aufführung von Brechts Turandot
oder der Kongreß der Weißwäscher
hat in keiner Gesellschaft den käuflichen
Mißbrauch der Intellektuellen zwecks Machterhaltung
verhindert, aber es hat den TUI in die Welt
gebracht, Brechts Umkehrung des Intellektuellen
in TELLEKT-UELL-IN (GW 12,598), das käufliche
Zerrbild, das bereit ist, für die Herrschenden
ein X zu einem U zu machen.
Ja, Brecht will politisches Theater. Schon mit
seinen Lehrstücken greift er in den 30er
Jahren unmittelbar in den Klassenkampf ein.
Die Maßnahme, ein Diskurs über Sittlichkeit
und Klassenkampf, wurde nicht nur für Arbeiter
gespielt, sondern von Arbeitern. Auch ein Stück
wie Die Gewehre der Frau Carrar, geschrieben
während des spanischen Bürgerkrieges,
greift unmittelbar in den politischen Kampf
ein, indem lapidar festgestellt wird, in diesem
Kampf gibt es keine Neutralität. Aber es
ist ein Irrtum, Brechts politisches Theater
auf das politische Thema zu beschränken.
Natürlich ist ein Stück wie Die Tage
der Commune eminent politisches Theater. Aber
nicht weil darin politische Themen abgehandelt
werden, sondern weil es eine politische Haltung
bezieht: die Lust an der Veränderung der
Dinge, der politischen wie der privaten. Die
Liebe des Communarden Jean zu Babette, auf der
er besteht, obwohl die aussichtlose Zukunft
der Liebe enträt, ist mindestens so politisch,
wie der Sturm auf das Pariser Stadthaus. Umgekehrt
kann ein Stück wie Die Kleinbürgerhochzeit,
in dem kein einziges politisches Wort fällt,
politischer sein als manch politisches Pamphlet.
Demontiert es doch in chaplinscher oder valentinscher
Weise das größte Hemmnis aller Revolutionen:
den selbstgefälligen und selbstgenügsamen
Kleinbürger.
Stücke mit politischen Themen müssen
nicht politisch sein, zum Beispiel wenn sie
langweilig sind, und Stücke der privatesten
Sphäre können Revolutionen vorantreiben,
wie eben Beaumarchais' Toller Tag. Verzicht
auf Politik, wie er heute an Theatern um sich
greift, ist nicht etwa keine Politik, sondern
fragwürdige. Es ist "selbstverschuldete
Unmündigkeit", vor der schon Kant
warnt. Brecht geht einen Schritt weiter: "Ohne
Ansichten und Absichten kann man keine Abbildungen
machen. Ohne Wissen kann man nichts zeigen;
wie soll man da wissen, was wissenswert ist?
Will der Schauspieler nicht Papagei oder Affe
sein, muß er sich das Wissen der Zeit
über das menschliche Zusammenleben aneignen,
indem er die Kämpfe der Klassen mitkämpft."
(GA 23, 86)
FÜNFTER EINWAND
Der Brecht-Stil. Brecht will
mit seinem Theater das Publikum aufklären.
Die Zeit der Aufklärung ist vorbei. Heute
zerfällt die Welt in ihre Einzelheiten,
Zusammenhänge verschwinden. Man kämpft,
wie der bekannte Vertreter der Postmoderne,
Jean-Francois Lyotard, sagt, gegen den
weißen Terror der Wahrheit, mit und für
die rote Grausamkeit der Singularitäten.
Wie aber soll der Schauspieler die Abgründe
der heutigen Welt darstellen, wenn Brecht nur
Gründe gelten läßt? Und wie
soll der Zuschauer Abgründe erleben, wenn
Brecht durch Verfremdung eine Distanz schafft
und jede Beteiligung des Zuschauers verhindert?
Zunächst: Abgründe sind
keine Erfindung der heutigen Welt. Vielleicht
fallen sie heute mehr auf, weil man heute mehr
von ihnen redet. Aber schon Brechts Im Dickicht
der Städte, geschrieben 1923, zeigt den
abgründigen Kampf zweier Männer, die
nicht wissen, warum sie kämpfen, was den
Kampf noch verschärft. Nur nennt Brecht
- als alter Hegelianer - Abgründe bei ihrem
bürgerlichen Namen: "Widersprüche".
Und wenn Brecht sein Publikum "aufklären"
will - und er will es tatsächlich -
so darüber, daß Widersprüche
(oder Abgründe) nicht nur in der Welt existieren,
sondern die Welt beherrschen. Doch wo bei anderen
der Glaube an ewige Abgründe anfängt,
beginnt bei Brecht der Zweifel: Was ist der
Grund der Abgründe? Brecht läßt
also nicht nur die Gründe gelten, sondern
auch die Abgründe. Allerdings müssen
es sich die Abgründe gefallen lassen, befragt
zu werden. Nicht um sie zu verkleinern, im Gegenteil,
Abgründe (also Widersprüche) werden
um so tiefer, je weniger man sie als "ewig",
also als gott- oder naturgewollt hinnimmt (als
"Immeriges", wie Brecht sagt), sondern
als Entstandenes, damit Vergängliches.
Eben als Irdisches, von Menschen Gemachtes.
Bestritten wird nicht, daß in dieser Welt
auch Unänderbares anzutreffen ist. Denn
"das lange nicht Geänderte [...] scheint
unänderbar. Allenthalben treffen wir auf
etwas, das zu selbstverständlich ist, als
daß wir uns bemühen müßten,
es zu verstehen." (GA 23, 81) Gegen solche
Selbstverständlichkeiten, die sich durch
Gewöhnung der Aufmerksamkeit des Menschen
entziehen, und gegen die "Grausamkeit der
Singularitäten", jene Einzelheiten
also, die ihre Zusammenhänge leugnen, kurz,
gegen eine Welt, die stillsteht, entwickelte
Brecht sein Theater, das er ein "nicht-aristotelisches"
nannte. Bekanntlich sah Aristoteles in seiner
Poetik die Wirkung der Tragödie darin,
daß sie durch Nachahmung einer Handlung
beim Zuschauer Furcht und Mitleiden erregt,
um den Zuschauer von Furcht und Mitleiden zu
reinigen. Dazu identifiziert sich der Schauspieler
völlig mit der darzustellenden Figur und
veranlaßt den Zuschauer, es ihm gleichzutun
und das Schicksal des Helden wie sein eigenes
zu erleben. "Diese Reinigung erfolgt auf
Grund eines eigentümlichen psychischen
Aktes, der Einfühlung des Zuschauers in
die handelnden Personen, die von den Schauspielern
nachgeahmt werden." (GW 15, 240) Brecht
verweist in diesem Zusammenhang auf Cicero,
der von dem römischen Schauspieler Polus
berichtet, welcher, um das Publikum mehr mitleiden
zu lassen, als Elektra, die ihren Bruder beweint,
die Urne mit der Asche seines gerade verstorbenen
Kindes im Arm trug.
Gegen ein Theater der bloßen Einfühlung
verfaßte bereits Denis Diderot 1773 sein
berühmtes "Paradoxon über den
Schauspieler". Dem Anliegen der Aufklärung
folgend, reichte Diderot auch auf dem Theater
das bloße Nachahmen der Natur und ihrer
Empfindungen nicht aus, um vom - wie er schreibt
- "empfindenden zum denkenden Menschen"
zu kommen. Für Diderot führt nicht
das eigene Leiden des Schauspielers auf der
Bühne zu großen Gefühlen, sondern
inwieweit er in der Lage ist, "mit kühlem
Kopf und ausgezeichneter Urteilskraft"
große Gefühle nachzuahmen, die er
an Menschen beobachtet hat. Und je weniger er
sie auf der Bühne teilt, um so wirksamer
werden sie. Ja, Diderot empfiehlt, um den "kühlen
Kopf und die ausgezeichnete Urteilskraft"
zu behalten, sogar die entgegengesetzten Gefühle
zu entwickeln: in einer Liebesszene also auch
die der Abneigung, in einer pathetischen Szene
deren prosaisches Gegenteil. Höhepunkt
des Theaters der Einfühlung war sicherlich
das "System" des großen russischen
Theaterreformers Stanislawski, der mit seiner
Forderung nach "Wahrheit der Empfindungen"
auf der Bühne, mit der er gegen die erstarrten
Klischees des Hoftheaters seiner Zeit rebellierte,
große realistische Wirkungen erzielte.
Aber auch er mußte nach den revolutionären
Umbrüchen in Rußland feststellen,
daß zur Darstellung der neuen sozialen
Widersprüche bloße Einfühlung
nicht mehr ausreicht. In seinen späteren
Inszenierungen verlangte er vom Schauspieler
neben der Einfühlung in die Figur auch
die Kritik der Figur und verlangte vor der Einfühlung
"physische Handlungen", um so die
Gefühle der Figur erst einmal zu erkunden.
Kritiklose Einfühlung birgt im Theater
mehr als in anderen Künsten die Gefahr
der Täuschung, durch die das Publikum verführt
werden kann. Diese Gefahr sah Brecht auch in
der "Theatralisierung der Politik".
So nannte er die Masseninszenierungen der Nürnberger
Parteitage durch die Nazis ein "Theater
des Glaubenmachens". Eine heutige Entsprechung
dieses Theaters sind die sogenannten "Events"
des Showbusiness als Höhepunkte substanzlosen
Miterlebens von Scheinrealitäten. "Theatralisierung
der Politik" findet regelmäßig
auch in den Wahlkämpfen statt, wo echte
Kämpfe zwischen echten Alternativen vorgetäuscht
werden. Auch gegen den Mißbrauch des "Theaters
der Einfühlung" entwickelte Brecht
sein "nicht-aristotelisches" Theater,
das auch ein neues Verhältnis zum Helden
auf der Bühne schafft. Der Zuschauer soll
nicht mehr "wie am Gängelband"
dem Schicksal des Helden folgen, sondern soll
"mit seinem Urteil dazwischenkommen können".
Durch bestimmte künstlerische Maßnahmen,
Verfremdung genannt, wird bloße Einfühlung
des Zuschauers verhindert, so daß er aus
einer bewußten Distanz den subjektiven
Horizont der Bühnenfigur überschreiten
kann, um Zusammenhänge und Widersprüche
zu entdecken, die der Figur selbst nicht bewußt
sind, die aber ihr Verhalten und ihren Charakter
erst wirklich erkennbar (und erlebbar) machen.
Dabei wird das "Selbstverständlichste"
und "Natürlichste" so dargestellt,
daß es beim Zuschauer Verwunderung erregt,
der wichtigste Schritt zur Erkenntnis, aber
auch zur Unterhaltung.
Das "aristotelische" Theater dagegen
benutzt die dem Theater innewohnende "Magie",
eben jene Täuschungskunst, den Vorgängen
und dem Charakter des Helden und seinem Verhalten
die Aura des "Einzigmöglichen",
des "Von-der-Natur-für-immer-Gegebenen"
zu verleihen und es so der Veränderungsmöglichkeit
zu entziehen. Das "nicht-aristotelische"
Theater hingegen veranlaßt schon durch
seine Art der Darstellung den Zuschauer, den
Helden und sein Verhalten nicht "schicksalhaft"
hinzunehmen, sondern für die Dauer des
Spiels die auf der Bühne gezeigten Vorgänge
im Geist durch andere mögliche Vorgänge
zu ergänzen. In seinen Ergänzungen
zum "Kleinen Organon für das Theater"
sagt es Brecht so: "Damit, auf spielerische
Weise, das Besondere der vom Theater vorgebrachten
Verhaltensweisen und Situationen herauskommt
und kritisiert werden kann, dichtet das Publikum
im Geist andere Verhaltensweisen und Situationen
hinzu und hält sie, der Handlung folgend,
gegen die vom Theater vorgebrachten. Somit verwandelt
sich das Publikum selber in einen Erzähler."
(GA 23, 300) Dadurch verlieren die Vorgänge
den Charakter des "Immerigen". Sie
werden "historisiert".
Übrigens ist "Historisieren"
einer der Schlüssel zur Arbeitsweise des
Brechttheaters. Brecht "historisierte"
nicht nur historische Stücke, sondern besonders
Stücke und Themen der Gegenwart. Das Gegenwärtige
wird durch Bekanntheit und Gewöhnung leicht
der Geschichtlichkeit entzogen, das heißt,
man hält es für "Immeriges".
Man fragt nicht nach seiner Entstehung, also
nicht nach seiner Vergänglichkeit. Damit
entzieht es sich - bewußt oder unbewußt
- dem Zugriff des Menschen, in diesem Fall dem
Zugriff des Publikums. "Historisieren"
ist das Aufdecken der menschlichen Tätigkeit
in allem, was Geschichte hervorbringt, gleich
ob es sich um menschliche Leistungen handelt
oder um jene Mächte, die dem Menschen fremd
oder gar übersinnlich gegenüberstehen,
denn auch sie sind geronnene menschliche Tätigkeit.
Genaugenommen ist "Historisieren"
die Anwendung der Ersten Feuerbachthese auf
das Theater: "Der Hauptmangel alles bisherigen
Materialismus [...] ist, daß der Gegenstand,
die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der
Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt
wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit,
Praxis; nicht subjektiv." (MEW 3, 5)
Gerade in der Frage des Historisierens ist bei
heutigen Theatern ein Rückfall auch da
zu beobachten, wo man sich links
und kritisch gibt. Es ist heute zum Ritual geworden,
historische Stücke - nicht nur im Kostüm
- aus ihrem historischen Feld zu reißen,
angeblich um sie zu aktualisieren. So sagte
ein Regisseur von Ibsens Nora, er könne
es heute nicht mehr akzeptieren, daß ein
bloßer Schuldschein eines nicht mal großen
Betrages zu einer derartigen Familientragödie
führt und baute dafür einen Mord ein.
Diese Enthistorisierung entzieht für den
Zuschauer jeden Sinn für Geschichte, da
nur - arrogant - mit heutigen Werten gemessen
wird. Fehlt aber der Sinn für Vergangenes,
dehnt sich die Gegenwart in alle Ewigkeit aus.
Das Stück, in künstlich heutige Aktualitäten
gezogen, verliert nicht nur seine Poesie, zum
Beispiel daß zu Zeiten winzige Ursachen
zu riesigen Katastrophen führen, es verliert
auch seine Aktualität, da der Zuschauer
nicht als "Miterzähler" die Ereignisse
des Stücks analog auf seine eigenen Verhältnisse
umlegen kann.
Aber auch bei Stücken der Gegenwart führt
Enthistorisieren zur Inaktivität des Zuschauers
selbst da, wo man kritisch die heutigen Verhältnisse
mit brutaler Härte auf der Bühne zeigt.
Das Erschrecken des Zuschauers wird hier zum
bloßen Zurückschrecken, da man heutige
Unstimmigkeiten als Dauerkrise zeigt, die nicht
veränderbar scheint. Fehlende Veränderungsmöglichkeit
aber führt zur Anpassung selbst da, wo
man sie beklagt. Die spießige Schicksalsergebenheit
des alten bürgerlichen Theaters etabliert
sich wieder durch die Hintertür. Dabei
behauptet man, konsequenter als Marx zu sein,
der nur die Entfremdung und Selbsttäuschung
des Menschen konstatierte, aber nicht den Mut
hatte, sie "als unüberwindliche Begleiterscheinung
menschlicher Vergesellschaftung zu akzeptieren"
(Derrida).
Brechttheater reduziert nirgends Abgründe,
Ecken und Kanten dieser Welt, um den Zuschauer
aus nüchterner Distanz zu belehren. Im
Gegenteil, Brechttheater heißt Aufreißen
von Widersprüchen und aktive Beteiligung
des Zuschauers nicht nur als Betrachter, sondern
als Miterzähler. Sein Ziel ist nicht, Widersprüche
auf der Bühne schnell zu lösen, damit
der Zuschauer schnell erlöst werde. Im
Gegenteil, Brechttheater heißt Steigerung
der Widersprüche bis zur Unerträglichkeit,
um das Ertragen und die Geduld, die Veränderungen
verhindern, beim Zuschauer in Frage zu stellen.
Es ist also der Versuch, in alles, was erstarrt
ist, sei es durch Gewöhnung, Alltäglichkeit,
Routine oder Ideologie, Bewegung zu bringen.
Ja, das Prinzip des Bewegens - Brecht sprach
zuletzt gern von "dialektisieren"
- ist eigentlich das A und O aller seiner Bemühungen
auf und mit dem Theater. Jener erstaunte Blick,
mit dem der Schauspieler sich seiner Rolle nähert,
und der erstaunte Blick, mit dem der Zuschauer
die Bühne betrachtet, vermögen alles,
was gezeigt wird, in Bewegung zu bringen, sogar
den Stillstand.
Brecht schätzte Samuel Becketts Warten
auf Godot. Er plante sogar kurz vor seinem Tode
eine Aufführung des Stücks am Berliner
Ensemble, die nicht mehr zustande kam. Der völlige
Stillstand einer Welt, den dieses Stück
zeigt, und der im üblichen Theater leicht
zu Langeweile oder zum Welt-Mythos führt,
sollte mit der Spielweise Brechts zum atemberaubenden
Vorgang werden, indem der Zuschauer das Warten
auf der Bühne nicht teilt, sondern, verwundert
über solches Verhalten, seine Ungeduld
dagegenhält, den Stillstand also historisiert
(kritisiert). Estragon und Wladimir, die auf
Godot warten, sollten bei Brecht allerdings
nicht schlechthin Clochards sein, sondern Arbeitslose.
Daß Arbeitslose nicht auf Arbeit warten,
sondern auf Godot, macht den Vorgang noch absurder,
eben zur Clownerie. Brecht wurde oft vorgeworfen,
daß in seinem Antikriegsstück Mutter
Courage und ihre Kinder die Courage, die alles
durch den Krieg verloren hat, nichts lernt und
am Ende weiter in den Krieg zieht. Bei richtiger
Spielweise aber muß die Courage nichts
lernen, damit der Zuschauer lernt. Ja, gerade
ihre Unbelehrbarkeit, bis ins Unerträgliche
gesteigert, löst das Unverständnis
des Zuschauers aus. Und nicht nur sein Verstand
ist es, der die Unbelehrbarkeit der Courage
kritisiert, es sind ebenso seine Gefühle,
darunter das wichtigste, wenn es um neue Erkenntnis
geht: das Erschrecken.
Brecht sprach im letzten Jahr seiner Arbeit
oft von der Naivität seines Theaters, ohne
die es nicht zu verstehen und schon gar nicht
zu machen sei. Er meinte nicht die primitive
Naivität, die das Gegenteil des Nachdenkens
ist. Er meinte die Naivität, die der Analyse
folgt. Es reiche eben nicht, wenn der Zuschauer
am Ende eines Stücks neue Einsichten hat.
Solche Einsichten, die das Theater natürlich
vermitteln muß, müssen durch das
Theater gleichzeitig in naive Reaktionen umgearbeitet
werden: in Erschrecken, in Trauer, in Protest,
in Zorn, in Staunen, aber auch in Lachen, Verspotten,
Belustigen, Erfreuen usw. Erst diese naiven
Reaktionen verleihen dem Gedanken den "Glutkern"
des Handelns. Im Sinne solch naiven Erlebens,
das in Brechts Theater neuen Erkenntnissen und
Einsichten folgen muß und das aus reinem
Denken das von Brecht so geschätzte "eingreifende
Denken" macht, sprach Brecht von der "kritischen
Haltung" als von einer "enorm künstlerischen
Haltung". Denn die "kritische Haltung",
die der Schauspieler und der Zuschauer einnehmen,
macht das Erkennen der Welt und den Eingriff
zu ihrer Veränderung zum Genuß. Es
ist jener Genuß, den Marx in den Grundrissen
in der "bewußten Lebenstätigkeit"
des Menschen sieht, indem der Mensch sich in
seinen Werken wieder als "tätiges
Wesen" entdeckt und diese Tätigkeit
genießt. So auch im Theater, wenn der
Zuschauer vom bloßen Betrachter zum aktiven
Miterzähler wird. Als ich Brecht einmal
fragte, wen er sich in diesem Sinne als Zuschauer
wünsche, antwortete er schlicht und einfach:
Karl Marx.
"Episches Theater" nannte Brecht in
den zwanziger Jahren seine Art, Theater zu machen,
die davon ausgeht, daß auf der Bühne
durch das Spiel des Schauspielers Geschichten
erzählt werden, die den Zuschauer selbst
zum Erzähler machen. Und daß die
Fabel, die erzählte Geschichte eben, das
Herzstück des Theaters ist (in diesem Punkt
stimmte Brecht mit Aristoteles überein).
Später in den fünfziger Jahren, beschäftigt,
eine poetische Form für die sozialistischen
Umwälzungen, die im Osten Deutschlands
stattfanden, zu finden, sprach Brecht vom "Dialektischen
Theater". Für die Verbindung von philosophischen
Einsichten mit elementaren Genüssen (eben
der Naivität), wie es Brecht in den letzten
Jahren seiner Theaterarbeit versuchte, aber
reichte auch diese Bezeichnung nicht mehr aus.
Zuletzt sprach Brecht - noch sehr vorsichtig
- von "philosophischem Volkstheater".
Schön und gut, höre ich sagen, das
ist die Theorie. Aber wo ist die Praxis? Wo
findet man heute "philosophisches Volkstheater"?
Wo findet man heute Brecht? Ist Brecht heute
da, wo man Brecht-Stücke spielt? Aber gerade
weil, selbst in Deutschland, wieder Stücke
von Brecht gespielt werden, bemerkt man, wie
sehr Brecht abwesend sein kann, besonders in
seinen eigenen Stücken. Wenn man sie zum
Beispiel "ohne Ansichten und Absichten"
spielt oder nur, um die Kassen zu füllen.
Am Deutschen Theater in Berlin sah ich kürzlich
eine Aufführung der Mutter Courage, noch
dazu von einem berühmten Regisseur, die
mit gekonnter Flachheit einschlägiger Fernsehserien
selbst die spannende Geschichte der Marketenderin
und ihrer Kinder derart niederbügelt, daß
man sich - von Langeweile geplagt - am Ende
fragt, ob Brecht überhaupt ein Dramatiker
sei. Oder ein Baal am Nationaltheater in Weimar,
der das Stück mit der alten Keule des Symbolismus
erschlägt, indem immerfort Bedeutungen
zelebriert werden, bevor die Geschichte erzählt
wird.
Wie aber stellt man heute die Anwesenheit von
Brecht fest? Ist es der Brecht-Stil, von dem
man nur eins mit Sicherheit weiß, daß
Brecht ihn nicht kannte, da er als Regisseur
mit jeder Inszenierung die Stilmittel wechselte.
Vielleicht hilft eine Bemerkung weiter, die
der Komponist und Freund Brechts, Hanns Eisler,
einmal machte, von dem man sagt, daß er
Brecht besser kannte als der sich selbst. "Das
Gestische", so Eisler, "ist ja eine
der genialen Entwicklungen von Brecht. Er hat
das genauso entdeckt wie Einstein seine berühmte
Formel." Danach ist die Sprache, die selbst
Goethe in seinen Anweisungen für Schauspieler
noch für das Hauptmittel des Theaters hielt,
das gesprochene Wort also, eigentlich nicht
die Sprache des Theaters, jedenfalls nicht hauptsächlich.
Die Sprache des Theaters ist der "Gestus",
übrigens eine Worterfindung von Brecht.
Der Gestus ist die Haltung eines Menschen, die
er in einer bestimmten Situation einem anderen
Menschen gegenüber einnimmt, und die alle
seine Ausdrucksmittel bestimmt: seine Körperhaltung,
seinen Tonfall, seine Gesten, seinen Gesichtsausdruck,
eben alles. So wird die Sprache auf der Bühne
erst wirksam, wenn ihr ein bestimmter Gestus
unterliegt, eben der einer konkreten Situation:
Man streitet, man überzeugt, man beleidigt,
man bittet, man fordert, man weist zurück,
man ladet ein, man flucht, man mahnt, man befiehlt,
man schmeichelt, man verurteilt, man umarmt
usw. Brecht wird da auf der Bühne anwesend
sein, wo man sich bemüht, konkrete Situationen
zwischen Menschen herzustellen, um von dort
aus alles Innen- und Außenleben der handelnden
Figuren abzuleiten. Das deutsche Wort "schön"
zum Beispiel hat im rein sprachlichen Theater
eine einzige Bedeutung, nämlich schön
zu sein. Im gestischen Theater kann es viel
mehr bedeuten, je nachdem, in welcher Haltung
und in welcher Situation es gesagt wird, kurz,
welcher Gestus ihm unterliegt. Wird ein Mann
zum Beispiel von seinem Freund gefragt, ob er
ihm für eine Woche sein neues Auto leihen
kann und er sagt "schön", drückt
er damit sicherlich nicht sein Entzücken
aus. Auch der Ausruf eines Vaters "Das
ist eine schöne Bescherung!", wenn
sein Sohn mit einem Fußball die Fensterscheibe
des Nachbarn zertrümmert hat, sagt nicht,
daß der Vater das schön findet. Einen
Gestus, also eine bestimmte Haltung, nehmen
nicht nur einzelne Figuren zueinander ein, auch
eine Szene, ja, eine ganze Inszenierung kann
einen Gestus haben und zwar gegenüber dem
wichtigsten Partner, dem Publikum. Zum Beispiel
den Gestus der Provokation. Oder des Berichtens.
Oder des Appellierens. Oder des Beschämens.
Ein und dasselbe Stück kann durch den Wechsel
des Gestus sogar seinen Inhalt wechseln.
1959 inszenierten wir am Berliner Ensemble Der
aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui im Gestus
einer marktschreierischen Moritat über
einen Straßenräuber. Damals sahen
noch viele Deutsche in Hitler zwar einen Verbrecher,
aber eben auch einen Dämon, dessen Größe
sie unweigerlich verführt hätte. Wir
zeigten Ui/Hitler auf der Bühne mit allen
Mitteln der Jahrmarktsbude als miesen kleinen
Räuber und beschämten alle, die ihm
nachgelaufen sind. Heute müßte man
das Stück wahrscheinlich anders spielen,
nämlich im Gestus einer Shakespeare-Historie,
die nicht so sehr die Geschichte des Gangsters
Arturo Ui erzählt, sondern die der Trustleute,
die Ui mit Geld und Politik erst für ihre
Zwecke aufbauen, um ihn, wenn er seine Schuldigkeit
getan hat, zu verteufeln und fallen zu lassen.
Nicht Beschämung des Publikums wäre
hier ein möglicher Gestus, sondern zuverlässiges
Berichten, die Sensation der Fakten also in
bizarrer Grausamkeit. Ein solcher Gestus machte
das Stück zur Gegenwart. Die Taliban und
ein Saddam kämen in Sicht und das Pentagon,
das sie erst aufbaut und dann verteufelt, wenn
sie nicht mehr gebraucht werden.
Der Komponist Eisler sprach auch von "gestischer
Musik" und nannte dafür als besonderes
Beispiel den "Bericht über den Tod
eines Genossen, der an die Wand gestellt wurde"
aus Brechts Stück Die Mutter. Es ist die
Szene, als die Mutter erfährt, daß
Pawel, ihr Sohn, als Revolutionär standrechtlich
erschossen wurde. Erschüttert hält
die Mutter den Brief mit der Mitteilung in der
Hand, die Musik Eislers teilt die Trauer, hat
aber den Gestus einer Ermunterung wie eine Bachsche
Fuge: in der Trauer liegt die Hoffnung. Denn
jene, die Pawel erschießen, sind einfache
Soldaten, also seinesgleichen "und nicht
ewig unbelehrbar".
Brecht sprach auch vom Gestus des Bühnenbildes.
Es ist die Haltung, die auch ein Bühnenbild,
gleich ob realistisch oder konstruktiv, dem
Publikum gegenüber einnehmen kann. Die
leere Bühne der ersten Mutter-Courage-Inszenierung
1948 in Berlin, auf der nur der Planwagen der
Courage, beladen oder verarmt, unaufhörlich
in den Krieg rollt, war nicht die Etablierung
eines sogenannten Brecht-Stils, was bis heute
behauptet wird, sondern hatte einen realen Gestus:
es war die Einladung an das Publikum zur Mitarbeit,
alles auf der Bühne Fehlende durch eigene
Erfahrungen mit dem gerade zu Ende gegangenem
Krieg zu ergänzen.
Auch die Nüchternheit, das berühmte
brechtsche "Grau-in-Grau", war nicht
Stilmittel, sondern, wie Brecht es formulierte,
"eine Entziehungskur für Rauschgiftsüchtige,
denen noch Prunk und Pathos der Göring-Theater
im Auge und im Ohr waren". Später,
in seiner Inszenierung des Kaukasischen Kreidekreises
entfaltete Brecht geradezu eine Pracht der Farben,
wie sie bei den großen Niederländern
zu finden sind. Es war der Gestus der Einladung
an das Publikum, Umschau zu halten nach neuer
Vitalität und neuen Helden. Brecht haßte
Bühnenbilder, die den Zuschauer zum Voyeur
machen, der wie durch ein Schlüsselloch
Einblick in Intimitäten erhält. Aber
auch solche, die von vorn herein den Ausgang
eines Stücks vorwegnehmen, indem sie zum
Beispiel - wie heute oft - Trümmerlandschaften
zeigen, bevor sie im Stück entstehen. Das
sei so, als erzähle man die Pointe vor
dem Witz. Die Suche nach dem Gestus, ob beim
Schauspieler, bei der Musik, beim Bühnenbild,
setzt Kenntnis der Realität voraus. Gerade
weil man Realitäten in ihrer äußeren
Erscheinung nicht bloß kopieren will,
ist ihre Beobachtung und Entdeckung unerläßlich.
Brecht nennt es die "Kunst der Beobachtung",
für ihn - wie schon für Diderot -
neben dem Talent die wichtigste Voraussetzung
für Theater.
SECHSTER EINWAND
Der Pudding erweist sich
beim Essen, soll ein Lieblingsspruch von
Brecht gewesen sein. Wo aber ist heute ein Theater
mit "Ansichten und Absichten", einer
"gestischen Spielweise", in dem das
Publikum, mitbeteiligt am Spiel, Aufklärung
und Genuß erfährt? Ist das nicht
bei dem Durcheinander der Theaterkunst heute
- manche sagen auch Pluralismus dazu - eine
Utopie?
Theater wird immer auch
Utopie sein. Wo die Utopie aufhört, hört
Theater auf. Auch Brecht wähnte sich nicht
am Ende der Weisheit. Er betrachtete seine eigene
Arbeit, auch die am Berliner Ensemble, als erste
Anfänge eines neuen Theaters, das als Partner
die große Emanzipation der Menschen begleitet,
befördert, besingt. Seine Vorschläge
für ein solches Theater, das Aufklärung
und Genuß, Analyse und Leidenschaft, höchste
Professionalität und echte Naivität,
das Schauspielkunst und Zuschaukunst vereint,
niedergelegt in seiner Schrift Kleines Organon
für das Theater, sind Wissenschaft und
Traum zugleich. Brechts Thesen, auch da, wo
sie apodiktisch klingen, bestimmen nicht die
Zukunft des Theaters, sie erweitern nur seine
Möglichkeiten. Denn trotz anders lautender
Gerüchte setzte Brecht nicht nur auf Planung,
er ließ auch die Ahnung gelten. Als ich
ihn einmal fragte, woher er die Sicherheit im
dialektischen Denken nehme, antwortete er zu
meiner Verblüffung, für ihn sei Dialektik
auch Gefühlssache.
Doch zurück zu den Fakten. Wo findet man
heute Theater, das Brecht gefallen würde?
Diese Frage könnte eigentlich nur Brecht
beantworten. Ich kann nur von mir ausgehen,
was den Vorteil hat, unvollständig zu sein,
also der Ergänzung durch andere zu bedürfen.
Zumal ich mich nur in Europa ungefähr auskenne.
Das letzte Mal, daß ich den Eindruck hatte,
Brecht hätte eine Theateraufführung
gefallen, war vor wenigen Wochen am Staatstheater
Cottbus. Es war Mutter Courage und ihre Kinder,
inszeniert von Alejandro Quintana, der, einst
als chilenischer Emigrant in die DDR gekommen,
seine Lehrzeit am Berliner Ensemble absolvierte
und heute ein gefragter Regisseur in Deutschland
ist.
Vor seiner Cottbusser Inszenierung wurde ich
gewarnt, sie sei, sagte man mir, "ganz
anders". Sie war tatsächlich ganz
anders, aber nach meiner Meinung deswegen um
so näher bei Brecht. Schon beim Aufgehen
des Vorhangs, auf dem die Friedenstaube von
Picasso zu sehen war, vermeinte man Bilder aus
dem heutigen Bagdad zu sehen: Zwei Soldaten
in khakifarbenen Kampfanzügen, mit stoffbezogenen
Helmen, Maschinenpistolen unruhig in Händen,
beschweren sich, daß "die Leut hierherum
so voll Bosheit seien", obwohl man doch
als Befreier gekommen sei. Das ist die erste
Überraschung des Abends: Quintana hat die
Inszenierung lange vor dem Irakkrieg gemacht.
Sie wurde zur Voraussage. Die zweite Überraschung:
Die heutigen Kostüme verführen den
Regisseur nicht zu heutiger Flachheit. Er spielt
die archetypischen Kriegssituationen mit Größe,
Schärfe und Humor aus, so daß die
heutigen Kostüme sie nicht- wie in vielen
anderen Inszenierungen - cool machen,
im Gegenteil, die Kostüme machen die archetypischen
Situationen Brechts noch überraschender,
also kräftiger. Die dritte Überraschung:
Quintana leugnet nicht seine Herkunft. In Beweglichkeit
und Farbigkeit der Figuren, die mehr aus Lateinamerika
als aus dem Deutschland des Dreißigjährigen
Krieges kommen, gewinnt er für die Geschichte
eine ganz neue Dimension. Diese Courage, die
an die Zigeunerin Celestina des Fernando de
Rojas erinnert, und ihre lebensfrohen Kinder
machen das Ende der Familie um so erschütternder.
Auch daß am Ende die Courage, die der
Krieg um ihre Kinder und alle Habe gebracht
hat, nicht weiterzieht, sondern aufschreit,
als wollte sie die schlafende Welt wecken, hätte
Brecht sicher akzeptiert. Es ist, als höre
man den Aufschrei vieler Millionen heute gegen
die Kriege jenes Imperiums, gegen
das Arundhati Roy auf dem Welt-Sozial-Forum
in Mumbai zum friedlichen Krieg aller Friedliebenden
aufrief.
Bei einer anderen Inszenierung, die einige Jahre
zurückliegt und die ich im Hamburger Schauspielhaus
sah, wird man erstaunt sein, wenn ich sie "Brechttheater"
nenne. Erstaunt wäre vor allem der Regisseur,
der keine Politik mit seinem Theater
beabsichtigt und schon gar keinen "Brecht".
Es ist der Schweizer Regisseur Christoph Marthaler
mit Die Stunde Null oder Gedenktraining für
Führungskräfte. Eigentlich ist es
gar kein Stück, sondern eine Collage von
Beobachtungen, Episoden, Pointen, Szenenfetzen
und vor allem Gesängen, und da von innigen
deutschen Volksliedern. Denn Marthaler ist von
Haus aus Musiker (und es wird tatsächlich
himmlisch und vielstimmig gesungen). Die Führungskräfte
müssen, bevor sie führen, sich als
fühlende (singende) Menschen mit Herz üben.
Brecht nannte seine Szenenfolge Furcht und Elend
des Dritten Reiches ein "Gestarium".
Er sammelte aus der Entfernung der Emigration
Berichte, Notizen, Bilder, Witze, Phrasen aus
dem Alltag des Faschismus in Deutschland. Also
"Gesten" der Alltäglichkeit,
die den Faschismus erst ermöglichten. Es
war das "Gestarium" des Alltags, das
sich selbst als unpolitisch oder
harmlos ansah und doch in der Masse die Hauptschuld
an den großen Verbrechen trug.
Ein solches "Gestarium" scheint mir
Marthalers Gedenktraining für Führungskräfte
zu sein. Hier üben in "geschlossenem
Lehrgang" unter Aufsicht einer "Erzieherin"
als Fuchtel des Weltgeistes in der "Stunde
Null" - also 1945 - die künftigen
Eliten des sich wiederaufrichtenden Kapitalismus,
was sie als die kommenden Führungskräfte
am dringendsten benötigen: das Händeschütteln
(sie üben es an einer Hand, die an einem
Turn-Pferd angebracht ist); das Winken zum Volk
mit dem dazugehörenden ständigen Lächeln;
das Zerschneiden von Bändern, um Brücken
einzuweihen; vor allem aber und ständig
die freie Rede der festgelegten
Texte am Mikrophon, bei der man viel redet und
nichts sagt. Dazwischen Erfrischungen von Tee,
den man im Stehen einnimmt und auf den kleinen
Finger achtet, der von der Tasse abgespreizt
sein muß, um Kultur zu beweisen. Und immer
wieder Sprüche und Gesänge, mit denen
man Herz und Verstand in jenem Patriotismus
trainiert, den man später als Führungskraft
anderen abverlangt.
Marthalers Gedenktraining ist Hohe Schule von
dem, was Brecht die Kunst der Beobachtung nennt.
Die große Ruhe, in der sich die Übungen
ständig wiederholen, verleihen ihnen den
Gestus von Sitten und Gebräuchen,
wie sie auch Brecht verwandte, um Handlungen
zu historisieren und einem System zuzuordnen,
das sie immer wieder hervorbringt. Selbst, wie
man seine Betten baut und sich zur Nachtruhe
anschickt, folgt festen Regeln, besonders da,
wo man auf unverwechselbarer Individualität
besteht. Da jeder darauf besteht, wird es zum
Stereotypen Gruppenverhalten, das man braucht,
um in die Eliten von Daimler-Benz oder der Deutschen
Bank aufzusteigen.
Der schonungslose Humor, im tiefsten Ernst vorgetragen,
besonders da, wo das Lächerlichste verrichtet
wird, macht das Gedenktraining mit Gesang und
Innigkeit zu einer Parade der Nieten in Nadelstreifen.
Gerade Genauigkeit der Details, ihre ständige
Wiederholung und die widersprüchliche Montage
verfremden in grandioser Weise einen Alltag,
der sonst schon gar nicht mehr in seiner Absurdität
auffällt. Es ist im Sinne Brechts beste
"immanente Kritik". Und es erfüllt
noch ein Kriterium des Brechttheaters: Es ist
unglaublich unterhaltsam.
Auf der Suche nach Brecht kommt man an Dario
Fo nicht vorbei. In seinem Theater in Mailand,
das noch ein echtes Arbeitertheater ist, verbindet
der große Schauspieler, Poet, Improvisateur
die Traditionen der commedia dell'arte mit der
gesellschaftskritischen Spielweise Brechts und
praktiziert tagtäglich, wovon Brecht träumte:
philosophisches Volkstheater. Seine Themen reichen
von Julius Cäsar bis Silvio Berlusconi,
vom Vatikan, der die Sünde erfindet, bis
zum Supermarkt, in dem die Kunden sich entschließen,
nichts mehr zu bezahlen. Wenn es einen Beweis
für Brechts Behauptung gibt, nicht das
Wort, sondern der Gestus sei die Sprache des
Theaters, ist es der Schauspieler Dario Fo.
In einer Matinee im Berliner Ensemble 1986 improvisierte
er einen englischen Richter, der mit gewaltigem
Plädoyer einen armen Taschendieb verknackt;
einen schwedischen Chefarzt, der seine Methode
des Bauchaufschlitzens als die einzig erfolgversprechende
preist; einen französischen Pfaffen, der
gegen Verhütungsmittel wettert. Wir Zuschauer
verstanden alles und waren von der Genauigkeit
der Charaktere begeistert; erst später
erfuhren wir, daß Dario Fo kein Wort englisch,
schwedisch oder französisch spricht. Er
sprach in "Grammlo", einer Sprache,
die er selbst erfunden hat und die außer
dem realen Gestus keinen Sinn hat.
Noch vor Beginn einer Vorstellung tummelt sich
der Darsteller Fo, zum Beispiel eine Wundertäterin
darstellend, die von Königin Elisabeth
I. in den Buckingham-Palast gerufen wird, um
ihr die Falten aus dem königlichen Gesicht
zu entfernen, mitten unter den Zuschauern und
verkündet seine Meinung zur hohen Politik
oder zur Politik der Hohen, einbeziehend Ereignisse
des Tages, die in ihrer Absurdität jede
Historie einholen und Fos Behauptung bestätigen,
daß das Lachen nicht nur den Mund, sondern
auch das Gehirn öffnet.
Die Reihe kann sicher fortgesetzt werden. Brecht
wird überall da anzutreffen sein, wo es
um Entdeckungen geht, auch um die Wiederentdeckung
von Brecht selbst. Jede Spielweise, die dem
Aufreißen von Widersprüchen dient,
um mit Widersprüchen dieser Welt umzugehen
und sie zu nützen, sollte willkommen sein:
Tragödie oder Clownerie, Vers oder Slang,
Phantasie oder Dokument, Emotionen oder Kälte,
Gründe oder Abgründe, Durchsichtiges
oder Absurdes, aufbauen oder zertrümmern.
Jedenfalls kann das Theater Brechts heute mehr
Theatermittel freisetzen als die modistischen
Richtungen, die in ihrem Bemühen, "Noch-nie-Dagewesenes"
zu machen, einander gleichen wie ein Ei dem
anderen. Sie sprechen von Imagination und heraus
kommt nur Image. Neue Zeichen werden unentwegt
gesetzt, bei genauem Hinsehen erweisen sie sich
nur als neues Design.
Jede Generation hat - dem jungen Brecht folgend
- ein Recht, sich von der vorigen abzustoßen.
Zertrümmern altbewährter Mittel ist
legitim, auch davon machte Brecht regen Gebrauch.
Allerdings unter einer Bedingung: Zertrümmerung
muß Freiräume schaffen, nicht Schuttplätze.
Sicher, es gibt heute viele Arten Theater zu
spielen, Brechttheater ist darunter nur eine.
Aber wenn man von Brecht spricht, gleich ob
in Zustimmung oder Ablehnung, sollte man ihn
kennen. Und am besten gerade das, was man zu
kennen glaubt, noch einmal lesen. Und gerade
weil ich, um diesen Text zu schreiben, Brecht
wieder gelesen habe, kann ich versichern, daß
die lohnende Bereicherung, die man von dem großen
Philosophen Brecht erfährt, begleitet wird
von einem nicht minder lohnenden Vergnügen.
Es ist das Vergnügen an einem der großen
Poeten unserer Zeit. Ist also Brechttheater
eine Chance für unsere Zeit? Die beste
Antwort ist, es auszuprobieren. Denn: Der Pudding
erweist sich beim Essen.
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